Mittwoch, 10. Mai 2017

Passiver Widerstand

passive resistance

Ich habe bisher mit jeder meiner Lerngruppen ab einem gewissen Alter das Thema passiver Widerstand behandelt, egal welches Fach, egal, ob es auf dem Lehrplan steht oder nicht. Wir sollen unsere Schüler zu mündigen Wesen erziehen, dazu gehört, dass wir ihnen einen Sinn für Werte, Rechte und Pflichten vermitteln. Dazu gehört auch, dass sie nichts unhinterfragt lassen müssen und dass sie nicht alles nachäffen müssen, was man ihnen vortanzt.

Dazu gehört auch, dass sie nicht jede Entscheidung, die über ihren Kopf hinweg gefällt wird, unkommentiert hinnehmen müssen. Und meine Aufgabe ist es, ihnen das Prinzip von Widerstand zu erklären. Gewaltfreier Protest. Look it up. Und heute gab es einen schönen Anlass dazu, nämlich meine erste Englischstunde in Klasse sieben nach meiner Zukunftsprognose am Freitag. Und da ich versuche, authentisch zu sein, habe ich nicht direkt mit dem Thema United Kingdom begonnen. Denn es ging mir heute in der Schule extrem beschissen.

Es war der reinste Spießrutenlauf. So unangenehm war die Zeit zwischen den Stunden noch nie. Ich habe mit niemandem gesprochen, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ, sondern habe nur auf meinem Platz gesessen und meine Fingernägel angeschaut. Die Pausen habe ich nach Möglichkeit in den Klassenräumen verbracht. Leider war ich noch in der ersten großen Pause zehn Minuten im Stützpunkt, wo wieder diskutiert wurde, wer denn jetzt noch die fehlenden Kurse unterrichten soll, und ob die Kollegen, die meine Stunden übernehmen, nicht noch ein paar Stunden mehr unterrichten wollen.
Ich bin fast geplatzt, ich hätte fast losgeschrien.

Das tue ich mir nicht nochmal an. Das hat dazu geführt, dass ich mit meinen Siebenern erstmal darüber gesprochen habe, warum es mir heute nicht so gut geht, warum ich nicht so laut reden möchte, dass ich vielleicht gehen muss und dann bin ich gegangen, um zu kopieren, weil keiner die Sachen dabei hatte. Draußen bin ich sofort von einer Schülerin abgefangen worden, in Tränen aufgelöst. Sie kann nicht begreifen, warum der einzige Lehrer, dem sie vertrauen kann, jetzt gehen muss. Dann kommt die zweite Schülerin, hält sich ihr Kopftuch vor die Augen, rennt direkt aufs Klo. Sie kann nicht verstehen, warum der Lehrer gehen soll, der in ihr endlich so etwas wie Mut zum Unterricht geweckt hat. Und die nächste Schülerin kommt heraus, knallrot im Gesicht, kurz vorm Platzen. Sie kann nicht verstehen, warum der einzige Lehrer gehen soll, der sie endlich mal versteht.

Und dann habe ich fast losgeheult, weil ich ihnen darauf erstmal keine vernünftige Antwort geben konnte. Nicht, ohne die Kollegen hineinzuziehen, die meine Stunden übernehmen können. Ich habe dann händeringend versucht, ihnen klarzumachen, dass es nicht um Beliebtheit geht. Nicht um Vertrauen. Nicht um Examensnoten. Sondern nur um den Fachbedarf. Dass es ein System fernab der Menschlichkeit ist. Ich habe ihnen versucht zu erklären, was in der Schulleitung schiefgelaufen ist. Das ist alles nicht so leicht, ohne Namen zu nennen. Das trainiert die Contenance, vermutlich.

Ich habe versucht, ihnen klarzumachen, dass wir jetzt alle - irgendwie - ruhig bleiben müssen. Den ersten Schlag erstmal irgendwie wegstecken, auch wenn das echt hart ist. Und dass wir wenig tun können, außer, uns bemerkbar zu machen. Bekannt machen, dass diese Lehrkraft gehen soll. Bekannt machen, warum diese Lehrkraft gehen soll. Ich werde heute Abend endlich mal den kleinen Brief an meinen Schulleiter schreiben und ihm zu erklären versuchen, was da schiefgelaufen ist.

Die Schüler sind bereits aktiv geworden.

Die erste Schülerin hat sich direkt draußen im Flur hingesetzt und gesagt "Dann mache ich jetzt nicht mehr mit. Dann gehe ich auch von der Schule." - und das war für mich ein wunderbarer Anlass, um zu erklären, was man unter passivem Widerstand versteht. Daraufhin haben sich dreizehn Schüler in den Flur gesetzt, Protestbriefe geschrieben und angefangen, Plakate zu basteln, während ich im Klassenraum den verbliebenen Vieren etwas über das UK erzählt habe. Ich habe ihnen gesagt, dass wir das so machen können, dass sie aber in der nächsten Stunde bitte alle Bescheid wissen und die Vokabeln können müssen. Und das werden sie tun.

Als ein paar von ihnen am Ende der Stunde ihre ersten Textentwürfe vorgelesen haben, hätte ich fast wieder angefangen zu heulen und hab' sie alle rausgeschmissen - nicht ohne ihnen zu sagen, wie toll ich das finde (und dass sie BITTE keine anderen Kollegen namentlich mit reinziehen, auch wenn sie vielleicht gerade noch so wütend auf manche sein mögen). Das gibt mir gerade die Energie, die ich brauche, um nicht vollkommen das Handtuch zu werfen. Mal sehen, was ich damit losgetreten habe - denn ich habe den Kiddies klargemacht, dass auch die Eltern in der Sache deutlich werden müssen.

Ich habe mich noch nie so sehr über Leistungsverweigerung gefreut wie heute.

Es ist nicht leicht, sich in so einer Phase nicht einfach seiner Wut hinzugeben. Irgendetwas oder jemanden anschreien, etwas zerschlagen, sich selbst verletzen, um zu spüren, dass das Ganze real ist. Es ist nicht leicht, den Kollegen gegenüber ruhig und gefasst zu bleiben, wenn sie kommen und fragen "Ist alles okay bei dir, du siehst so traurig aus?!" Und die Kollegin, die an meiner Statt bleibt, weiß noch nichtmal, dass ich ihretwegen gekickt werde. Wenn doch, dann wäre sie das unsensibelste, rücksichtsloseste Miststück, das mir je begegnet ist (abgeleitet aus der Art und Weise, wie wir uns heute unterhalten haben, Frau Steigdrauf hat das mit ihren HB-Sensoren natürlich registriert). Und das kann ich nicht glauben wollen. Außerdem wäre es nicht das erste Mal, dass es mit der Kommunikation etwas gehapert hat (Stichwort Klassenstufen).

Weiter ruhig bleiben. Irgendwie.

Der olle Seneca hat mal etwas de ira geschrieben. Wenn ich noch Latein unterrichten würde, könnte ich das jetzt mal lesen.

post scriptum: Und auch, wenn das an dieser Stelle ein extrem selbstmitleidiger Gedanke ist, so ist er eben da - ich wünschte, Er wäre hier und ich könnte mit ihm drüber reden. Aber Er ist bei seiner Freundin und darf nicht mit mir kommunizieren, und so gehen all diese wichtigen Ereignisse in meinem Leben an ihm vorbei - der Autounfall, der Abschied von SPO, die neue Stelle in NMS und diese Phase jetzt. Da meldet sich bei mir wieder die Angst, dass wir irgendwann so weit auseinandergedriftet sind, dass wir nicht mehr zusammen finden, und das nur, weil Er nicht genug Rückgrat (und Vertrauen in seine Beziehung) hat, mich besuchen zu kommen. Weil sie ihm dann die Hölle heiß macht.

Warum müssen Hochbegabte in solchen Situationen eigentlich gleich immer ALLE negativen Faktoren heranziehen? So ein Scheiß! 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen