Donnerstag, 25. Mai 2017

Einer

Auch diesmal geht es ein bisschen um Lehrer als Privatmenschen.

Ich war aufgeregt. Ich war damals richtig aufgeregt, denn meine Englischlehrerin - ich nenne sie hier Frau Goethe - hatte zum Kurstreffen eingeladen. Was soll ich nur anziehen? Wie wird es bei ihr aussehen? Es gibt sie auch als Privatperson? Wie ungewöhnlich, denn unsere Lehrer waren in der Regel sehr bemüht, ihr Privatleben zu verbergen. (mir wäre das zu anstrengend) Ob Frau Goethe ein großes Haus hat? Wie wohl ihre Inneneinrichtung aussieht, ob sich da ein bestimmter Stil abzeichnet? Ob es gemütlich ist?

Ich war kurz davor, meine Lieblingslehrerin privat kennenzulernen. Sie war erst seit zwei Jahren an der Schule, ganz jung, direkt nach dem Referendariat mit dem Wunsch, die Welt zu verändern - zumindest für ihre Schüler. Und sie war eine tolle Lehrerin (in Richtung Frau Reichelt), sie hat es geschafft, dass ich nach einer intensiven Mobbing-Phase endlich wieder Spaß an Schule hatte. Sie hat sich ihren Schülern als Mensch präsentiert, und das ist definitiv keine Selbstverständlichkeit.

Und dann kam ich in ihr Wohnzimmer. In guter HSP-Manier habe ich alles um mich herum intensiv wahrgenommen. Die Beleuchtung, die Bücherregale, den Kamin. Ein Gespräch fand natürlich statt, aber parallel schaute ich mich in dem Wohnzimmer um und versuchte, Frau Goethe noch mehr zu verstehen. Was hatte wohl dieses Teil da hinten zu bedeuten? Warum sie wohl die Spiegel abgehängt hat (hatte sie nicht)? Es war, als würde mir die Wohnung etwas über Frau Goethe erzählen, und ich fand es toll. Wahnsinn! Ich lernte meine Lehrerin als Privatmensch kennen! Für mich eine völlig neue Situation, und ich sollte an jenem Abend viele Denkimpulse mit nach Hause nehmen.

Sechzehn Jahre später und ich habe die Seiten gewechselt. Jetzt bin ich der Lehrer, mit einer Wohnung, die ganz wunderbar mein Seelenleben widerspiegelt, und lade einen ehemaligen Schüler zu mir ein. Was für ein Gefühl, das Ganze jetzt von der anderen Seite zu erleben! Meine Wohnung sieht chaotisch aus, und ich überlege für einen Moment, ob ich nicht aufräumen sollte. "Was sollen denn die Leute denken?" höre ich meine Mutter im Geiste fragen. Doch dann entscheide ich mich dagegen. Ich beschließe, ihm eine authentische Hochbegabtenwohnung zu präsentieren - denn auch er ist hochbegabt. Ich nenne ihn "Einer" (kleiner Seitenhieb auf "Ach, der Kurs ist nicht dolle, die sind alle echt schwach. Da ist gerade mal einer, der kann ein bisschen was, aber den Rest kannste vergessen").

Und so war Einer heute bei mir zu Besuch. Schlechter Gastgeber, der ich bin, hatte ich natürlich nichts zum Anbieten außer Leitungswasser - aber Hochbegabter, der er ist, hatte er bei diesem Treffen sicher andere Dinge im Kopf als Essen und Trinken. Die Gesprächsinhalte haben in diesem Blog nichts zu suchen, wohl aber die Gedanken an Frau Goethe damals. Da waren Parallelen. Wie muss Einer sich wohl gefühlt haben?

Genervt vom Verkehr und der Parkplatzsituation? Im Treppenhaus dem leichten Duft nach Räucherstäbchen folgend? Und dann ist da die offene Tür, und Einer kommt herein und sieht - Alles. Ich habe in meiner Wohnung nichts zu verbergen, und ich bin sicher, dass Einer ganz intensiv die Eindrücke wahrnimmt, die Wandbehänge, die Wandtattoos, die Form der Wohnung, die Konzentration auf die Farbe Schwarz.

Und ob Einer wohl versucht hat, sich abzuleiten, wie das Leben des Dr Hilarius aussieht? Und ob er wohl versucht hat, Ticks zu erkennen, die ihm sonst nur bei sich selbst aufgefallen sind? Und ob er Dr Hilarius jetzt so als "authentisch" wahrgenommen hat wie ich damals Frau Goethe? Ich hoffe es, denn es unterfüttert diese Studie, die da behauptet, dass das Lehrer-Schüler-Verhältnis ausschlaggebend für einen sichtbaren Lernerfolg sei. Und dass es vielleicht ja doch eine Strategie des Dr Hilarius ist, um seine Schüler für den Unterricht zu begeistern.

Dass er sich als Mensch zeigt.

post scriptum: Ich vermute mal, Einer wird diesen Beitrag früher oder später lesen und er könnte mich womöglich in allen Punkten widerlegen, die seine Gedankenwelt betreffen. Aber vielleicht funktioniert das ja wirklich alles nach Mustern, die immer wieder auftauchen. Und so sind wir "Jenseits der Norm", wie Frau Brackmann sagt, aber unter uns vollkommen normal, und vor allem: vollkommen OK.

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