Samstag, 6. Mai 2017

Die Flucht

Im Studium bin ich in solchen Phasen gern zum Kronshagener Eichhof-Friedhof gegangen, das hat mich beruhigt.

...und dann gibt es diese Phasen, in denen ich Sicherheit brauche. In denen ich weglaufen kann, geistig, während ich nach wie vor in meiner Wohnung bin. Es ist meine Flucht, wenn sich Alles, was sich außerhalb meiner Wohnung befindet, feindlich anfühlt, gegen mich gerichtet. Dass es nicht so ist, kann ich in solchen Phasen nicht sehen. Es fühlt sich so an, und das ist das Problem. Menschen tun viele Dinge aus Gefühlen heraus. Manchmal sind es drastische Dinge.

Und so flüchte ich an diesem Wochenende von Allem und Jedem. Ich ziehe das Telefon raus und die Rollos runter. Ich möchte mit niemandem reden, ich möchte mich niemandem erklären müssen. Ich möchte kein Mitleid, das führt nur dazu, dass ich schon wieder anfange zu weinen, und das bringt mich in meiner Flucht wieder rückwärts an den Anfang all' der Gefühle. Ich muss vorankommen. Ich höre Musik, um meinen Geist beim Weglaufen zu begleiten.

Vibrasphere - Mountain Lake - schade, dass dieses Downtempo-Duo sich aufgelöst hat, aber toll, dass sie zwei unglaublich gute, melancholische Alben hinterlassen haben (Selected Downbeats Vol.1&2) - genau der richtige Souhndtrack für diese Flucht...

Ich flüchte mich in Videospielwelten und in Fernsehserien, in denen ich mich in solchen Phasen besser aufgehoben fühle als da draußen.

Da sind Sachen, die ich tun müsste. Noten unter den letzten Stapel Tests setzen, die Wäsche aufhängen, die Geschirrspülmaschine ausräumen. Den Freunden mal ein Lebenszeichen geben. Normalerweise bekomme ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich all' diese Dinge nicht tue, und werde depressiv. Da ich allerdings schon depressiv bin, fühlt es sich eher so an, als habe ich einen legitimen Grund, das alles nicht zu tun. Und so bin ich auf meiner Flucht, ignoriere um mich herum alles, worauf ich keine Lust habe, alles, was anstrengend ist, alles, was mich unglücklich machen könnte.

Es fühlt sich stabiler an als gestern.

Trotzdem denke ich, dass ich in der Schule in den nächsten Tagen nicht so viel Zeit im Stützpunkt verbringen will. Am besten gar keine; ich habe keine Lust, mit Kollegen über diese Situation reden zu müssen, schon gar nicht mit jener Kollegin, die nun an meiner Stelle bleiben kann und ungünstigerweise den Arbeitsplatz direkt neben mir hat. Ich kann darauf reichlich verzichten. Also flüchte ich auch vor den Blicken der Kollegen - so wie in der Anfangsphase an jeder neuen Schule: Immer mit gesenktem Kopf durch die Schule gehen, Augen auf den Teppich, nicht zurückgrüßen, wenn Schüler "Hallo, Dr Hilarius!" rufen, sondern eventuell mal die Hand heben, das muss reichen. Es reicht, wenn ich das method acting auf den Unterricht beschränken muss. Gute Laune vorspielen, damit die Schüler unter dem ganzen Scheiß nicht zu leiden haben, so, wie es das Lehrerhandbuch vorschreibt.

Ein paar Stunden später...

Die Flucht wirkt. Die kleinen Rituale wirken. Bekanntes, um ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln und auszublenden, dass meine berufliche Zukunft gerade unsicher ist. "Ja, kann ich mir vorstellen, dass das ein nerviger Zustand ist" - nein, und auch hier wieder, für Hochbegabte - wie auch für Autisten - ist das nicht einfach nur irgendein nerviger Zustand. Es ist, als ob  ich an das Ende eines Stegs komme. Ich muss weitergehen, aber ich weiß nicht, wohin. Und ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll.

Mit jeder Stunde, die vergeht, bekomme ich mehr Abstand von diesem Gespräch gestern. Es tut gut, das analysieren zu können, und die ganze Brachenfeld-Geschichte zu überblicken:

Sehr geehrter Dr Hilarius,
ich suche eine Lehrkraft mit der Fächerkombination Englisch-Latein, Laufbahn für gymnasiales Lehramt. Die Stelle ist befristet auf ein Jahr (1.8.16 - 31.7.17), der Umfang beträgt die volle Stelle. Ich freue mich auf eine Rückmeldung von Ihnen bis Freitag, den 10.6.16. Sollte ich bis dahin nichts gehört haben, gehe ich davon aus, dass Sie keine Interesse an der Stelle haben. Bitte wenden Sie sich auch an mich, falls Sie Fragen zu der Stelle oder den Stellenumfang haben.
 

Mit freundlichen Grüßen,
Silke Rohwer 

So ging das Ganze los und ich bin in ein Vorstellungsgespräch gegangen, in dem ich alles ausgepackt habe, was es an Problemen mit mir als Lehrkraft geben könnte. Das wurde alles vom Tisch gewischt als Kleinigkeiten, das bekommen wir hin - und vielleicht wird danach ja mehr daraus. Und ob ich nicht schon einen Monat früher anfangen könne. Ich war verdammt glücklich, nach fünf erfolglosen Gesprächen in den Wochen zuvor so etwas zu erleben.

Und dann bekam ich meinen Stundenplan mit Einsatz ausschließlich in den unteren Jahrgängen 5, 6 und 7. Ich war extrem verwirrt, ich hatte im Vorstellungsgespräch gesagt, dass es in 5 und 6 Probleme geben könnte ("Naja, das kann man ja bei der Unterrichtsverteilung berücksichtigen.") - ich hatte auch hier im Blog darüber geschrieben.

Es kam alles, wie es kommen musste, es gab die erwarteten Probleme, und Silke konnte sich nicht mehr daran erinnern, dass ich ihr im Vorfeld davon erzählt hatte. Naja, wir hatten in mehreren Gesprächen die Sachlage geklärt, und dabei auch überlegt, wie ich mich über den Unterricht hinaus in die Schule einbringen könnte: Klar, Thema Hochbegabung, Silke fand das super und das Problem mit den unteren Klassenstufen, das können wir dann ja gemeinsam angehen. Und so gingen wir auseinander und Silke meinte, wir würden uns im Frühjahr 2017 in Ruhe zusammensetzen und dann weiterplanen.

Ich war glücklich. Ich hatte eine Sicherheit. Eine Perspektive, etwas, worauf ich hinarbeiten konnte, und ich machte mir klar, dass ich es auch schaffen werde, in Klasse 5 und 6 zu unterrichten. Das bekommen wir hin - denn ja, ich merkte, dass ich an der Schule bleiben wollte. Wie die Sannitanic meinte: "Rede nicht soviel über deinen Unterricht, lass die Stunden für sich selbst sprechen." Ich habe sehr positives Feedback von Eltern bekommen. Gut, so habe ich über die Wochen und Monate den Eindruck erhalten, dass ich bleiben würde, die Frage wäre wohl nur, ob mit einer Planstelle oder weiterhin befristet.

Egal, Hauptsache ist, dass ich Arbeit habe, dass ich eine gewisse Sicherheit habe, dass ich mir keine Sorgen mehr machen muss. Jetzt kann ich auch mit vollem Engagement in den Unterricht gehen, denn für diese Schule würde ich Zeit aufwenden wollen (es ist für mich immer schwierig gewesen, richtig gute Arbeit zu leisten, wenn ich weiß, dass ich eh' nicht bleiben kann). Super! Und so wartete ich seit Wochen auf jenes Gespräch, das angekündigt worden war. Okay, Silke ist nicht mehr Schulleiterin, aber Jürgen ist Vertreter, und der hat das ja auch alles mitbekommen. Passt.

Es kam aber kein Gespräch. Keine Mail, nix. Dann lag auf einmal der große Plan für die Unterrichtsverteilung im Stützpunkt, alle sollten sich für die kommenden Kurse eintragen. Haben sie auch alle gemacht. Auch jene oben erwähnte Kollegin, die genau wie ich befristet angestellt ist. Hm, ich wundere mich zwar, dass ich noch nichts von der Schulleitung gehört habe - aber egal, die werden sich schon noch melden. Hatten sie ja so angekündigt; das war die Sicherheit, mit der ich seit mittlerweile acht Monaten durch die Schule ging.

Und dann begann das Drängen der Kollegen, hey, frag' doch mal, wie es bei dir aussieht, tritt ihnen auf die Füße. Okay, mache ich. Derweil schaute ich mir den Plan der Unterrichtsverteilung an - im ersten Entwurf war jene Kollegin sogar schon im Computer eingetragen. Hm, ob das für mich auch gilt? Ich suche alle Reihen durch und finde - nichts. Nur einmal steht mein Kürzel da - in Klammern, damit alle wissen, um welchen Kurs es geht. Oooooooooookay............

Naja, und dann halt das gestrige Gespräch. Vielleicht ist es jetzt noch klarer nachvollziehbar, warum gestern eine Welt für mich zusammengebrochen ist. Und ich bin immer noch dabei, die Scherben wegzufegen.

post scriptum: Sorry Sanni, sorry Caro, sorry Eltern - ich brauche im Moment einfach nur Ruhe, um in Phantasiewelten zu flüchten. Irgendwie muss ich jetzt diese zwei Wochen rumbringen, bis die Unterrichtsverteilung feststeht. Keine Ahnung, wie das gehen soll - naja, wie oben erwähnt, werde ich den Stützpunkt möglichst meiden und mich in den Pausen ins Auto setzen oder so. Und ich werde meinen Lerngruppen in der nächsten Woche sagen, was ansteht. Vielleicht melden sich ja ein paar Eltern zu Wort.

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