Samstag, 25. Juni 2016

Identität - Die Geschichte von Timo und Julian (part 6)




Disclaimer: Diese Geschichte ist Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen und Ereignissen sind rein zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt. Das wäre ja sonst ein roman à clef, und zu solchen literarischen Kunststückchen ist der Autor sicher nicht fähig.

Dieser Abschnitt der Geschichte enthält explizite Darstellungen von Drogenkonsum sowie seinen Auswirkungen und/oder Szenen körperlicher Nähe. Wer an solchen Bildern Anstoß nimmt, möge dieses Kapitel bitte überspringen. Darüber hinaus möchte der Autor immer zu einem verantwortungsbewussten Konsum psychoaktiver Substanzen mahnen: Das ist der sicherste Weg zur Drogenmündigkeit, dem Gegenstück zur Abhängigkeit.

Identität – die Geschichte von Timo und Julian


part 6

Nur ein paar Sekunden und meine Aufregung war verschwunden. Ein paar Sekunden Julian in die Augen schauen, wobei ich den Blick wieder nicht schnell genug lösen konnte, und ich fühlte mich am richtigen Ort.
Ich parkte den Wagen am Straßenrand und wir gaben uns die Hand – wir beide bekamen das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht, wenngleich es bei ihm etwas gequält wirkte; seine Augen waren leicht gerötet und glasig, er wirkte übernächtigt. Aber das war ja alles angekündigt. Trotzdem hatte ich ein kleines bisschen Angst, dass er der Sache nicht genug Aufmerksamkeit schenken würde – oder mir.
„Hey Ju, wow, du siehst fertig aus!“
„Na danke für die Begrüßung – aber hast ja Recht, war auf ner Party gestern, hatte ich erzählt, oder?“
„Jep, hast schon angekündigt, dass du leicht verkatert sein könntest. Und so wirklich happy siehst du auch nicht aus – möchtest du reden?“
„Ehrlich gesagt, im Moment nicht. Ich muss auch zugeben, ich bin dazu ein bisschen zu aufgeregt, was du jetzt mit mir machst.“
„Das klingt, als ob ich dich vergewaltigen will, keine Sorge, das wird echt nett werden!“
Mit diesen Worten öffnete ich den Kofferraum und wollte die Kiste mit den Teesachen herausholen, aber Ju kam mir zuvor.
„Lass mal, ich trag die Sachen rein.“
So näherten wir uns der Haustür seiner Wohnung. Vom Garten, den wir dabei durchquerten, und von seiner Großmutter, die uns freundlich begrüßte, bekam ich dabei nicht allzu viel mit. Mein Blick war auf seinen breiten Rücken fixiert, der durch das etwas zu enge Shirt noch betont wurde. Contenance, Timo! Lass es! Denk an seine Haare. Oder Maggie Thatcher, das schreckt beides ab.
„Lass uns erstmal nach rechts gehen, da ist die Küche. Sorry, es sieht hier etwas chaotisch aus, aber Dennis hat hier wieder gefeiert. Mein Mitbewohner“, setzte er hinzu, als ich nicht sofort antwortete.
„Ach ja, der ist auch schwul, oder?“
„Ja. Ist mein bester Freund seit… jedenfalls seit sehr lange, deswegen haben wir jetzt auch eine WG gegründet.“
„Cool, das freut mich, ist er denn da?“
„Nein, der ist auf der Arbeit. KFZ-Mechatroniker, obwohl er schon seit längerem überlegt, ob er nicht an die FH gehen möchte zum Studieren.“
„Was hält ihn davon ab?“
„Dass er eine faule Socke ist, er kann sich einfach nicht dazu aufraffen, das würde von ihm auch mal etwas Disziplin verlangen und da ist er nicht so groß drin.“
Julian stellte die Kiste auf dem Küchentisch ab. Eine grauenhafte Wachstischdecke. Nahrungsergänzungsmittel, Proteinshakes. Küchenkräuter in bunter Vielfalt. Das sah aus wie eine ganz normale Studenten-WG.
„Was hast du denn jetzt eigentlich alles mitgebracht?“
„Naja, pack doch einfach mal aus, dann siehst du alles.“
Zielstrebig griff er nach dem Teebeutel. „Also das ist dann vermutlich der Stoff zum Entspannen? Was stand da auf dem Aufkleber drauf?“
„Ja, das sind unsere Teeblätter. Da stand der Name der Pflanze drauf – ich möchte aber erst mit dir über die Gefahren sprechen, die das Ganze mit sich bringt. Und wenn ich das Gefühl habe, dass du verantwortungsbewusst damit umgehen kannst, dann sag ich dir den Namen. Denn, dieser Tee ist in Deutschland frei verkäuflich und bisher nicht vom Betäubungsmittelgesetz erfasst; die Schranken zur Abhängigkeit sind damit geöffnet, wenn man selbst nicht stark genug ist, auch mal Nein zu sagen. Ach, eigentlich können wir jetzt auch die Vorbesprechung machen, wir sind ungestört, oder?“
„Ja, meine Oma hat vorhin nur Wäsche aufgehängt, sie wohnt nebenan und wird davon nichts mitbekommen.“
„Alles klar. Mit welchen Drogen hast du denn bisher Erfahrungen gemacht?“
„Naja, Alkohol, aber das hast du dir ja sicherlich gedacht, und auch mal kiffen, aber das fand ich nicht so aufregend, vielleicht lag das auch daran, dass ich damals bereits betrunken war.“
„Alles klar“, antwortete ich, obwohl eigentlich nichts klar war. Aber ich wollte die Stimmung nicht kaputt machen. „Also, was wir heute zu uns nehmen, ist ein Opioid. Werden in der Medizin als Schmerzmittel benutzt, dazu gehört zum Beispiel auch Heroin, und davon hast du ja sicherlich schon gehört.“
„Oh, alles klar… nur bei Heroin denk ich mir immer… ja weiß nicht, ich hab Angst davor, dass…“ druckste Ju herum, und ich konnte ihn nicht dazu bringen, mit der Sprache herauszurücken.
„Lass uns nachher drüber reden, dann wird’s einfacher, den Mund aufzubekommen. Opioide fühlen sich wunderbar an. Du fühlst Dich warm, entspannt, wie in Watte eingepackt und extrem wohl.“
„Das klingt auf jeden Fall schon mal super.“
„Klar, Gefahren gibt es auch: Eine deutliche Überdosis – abhängig von der jeweiligen Substanz – kann zu Atemlähmung und damit zum Tod führen.“
„Okay…“ murmelte Julian nachdenklich, während er den Teebeutel in seinen Händen drehte. Ich konnte seine Anspannung erkennen, mann Timo, bring ihn jetzt nicht zu irgendwas, was er nicht will, oder wovor er Angst hat. Set und Setting. Wäre Mist, wenn sein erstes Mal Opioidkonsum unangenehm für ihn wird. Also hol ihn da runter!
„Aber darum musst du dir bei uns keine Sorgen machen, der Tee enthält ein leichtes Opioid, und die Menge, die wir benutzen, ist auf jeden Fall safe.“
„Gut zu wissen, für nen Moment hatte ich grad etwas Schiss…“
„Ich lass dich hier nicht in irgendwelche Fallen reinlaufen, keine Sorge. Ich pass auf.“
„Deswegen vertrau ich dir da ja auch, du wirkst immer so, als ob du den richtigen Plan im Kopf hast. Ich glaub nicht, dass du mich hier ins Verderben schickst.“
„Ganz bestimmt nicht, hey, wir wollen doch nur etwas Spaß haben“, wobei ich ihm zuzwinkerte und damit ein Lächeln auf sein Gesicht zauberte; die Anspannung schien ihn wieder zu verlassen. Er schaute wieder in die Kiste.
„Soso, und für den Spaß hast du Skittles mitgebracht?“
„Okay, ich sollte dich vorwarnen, dass der Tee extrem bitter schmeckt, ist ne echte Herausforderung. Um den Geschmack im Mund danach loszuwerden, gibt’s erstmal Skittles und dann ein Xylit-Kaugummi.“
„Aha, und deswegen hast du auch den Zucker mitgebracht? Hätte ich doch auch hier gehabt“, wobei er mich anstrahlte.
„Ju, ich geh gern auf Nummer sicher. Auch, was die Mengen angeht“, fügte ich hinzu und stellte die Küchenwaage auf den Tisch. Dabei stieß ich gegen die Zuckerdose – „Huchherrje!“ doch der Deckel blieb zum Glück verschlossen und eine kleine Katastrophe blieb uns erspart.
„Wie süß, huchherrje!“ Ju gab dem Ganzen noch einen etwas tuckigen Touch.
„Ja? Wieso, sagst du etwa nicht huchherrje?“
„Hmmm… ich sag meistens hoppala.“
„Erinnert mich an meinen Biolehrer früher – nachdem er einem Schüler die Tür vor den Kopf geschlagen hatte, meinte er einfach nur oh hoppsala und kümmerte sich nicht weiter drum. Das waren noch Zeiten…“
Ich wog die nötige Menge Tee ab und schüttete die geschredderten Blätter in den Kochtopf. Julian schaute interessiert bei jedem Handgriff zu. Er stand hinter mir und schaute mir über die Schulter und ich merkte, wie sehr ich die Aufmerksamkeit genoss, die er mir entgegenbrachte. Ich fügte Wasser hinzu und rührte das Ganze gut um.
„Eigentlich ist das ja, als würden wir ganz normalen Tee kochen“, meinte Ju.
„Ja, ist tatsächlich so, nur dass dieser Tee etwas entspannender ist als vielleicht andere.“
„Und das gibt auch keine Probleme mit meinem Kater, oder?“
„Keine Sorge, ganz im Gegenteil, das wird dir sehr gut tun. Wetter ist auch perfekt, und wenn wir im Park tatsächlich ungestört sind, dann wird das grandios.“
Es dauerte eine Weile, den Tee zu kochen, er musste eine ganze Weile ziehen. In der Zwischenzeit holte ich meine Digitalkamera aus der Tasche und machte ein paar Fotos von uns. Auf einem sah Ju aus wie ein Zombie, das konnte ich ihm natürlich nicht vorenthalten. Er beschloss, es mit Humor zu nehmen:
„Immerhin, wenn wir nachher bei Cory sind und ich so fertig aussehe, kann ich das alles auf den Kater schieben, dann bekommt sie nichts mit.“
Wir unterhielten uns über recht belanglose Kleinigkeiten. Julian erzählte viel von sich und ich hörte aufmerksam zu. Er wurde langsam etwas lockerer und rückte dann auch mit der Sprache raus, was seine momentane Stimmung betraf: Seine Freundin hatte vor einigen Tagen mit ihm Schluss gemacht. Deswegen war er bei Reg auch so abwesend und hatte die meiste Zeit auf sein Handy gestarrt – er hatte gehofft, dass sie sich meldet und endlich einmal erklärt, was Sache war. Ich tröstete ihn. Ich kann nicht leugnen, dass ich mich über diese Situation freute. Nun war ich da, um ihn ein bisschen abzulenken, das war doch perfekt!
Nach etwa einer halben Stunde goss ich den Tee durch ein Sieb ab, um die Blätter loszuwerden. Im Messbecher blieb nun eine klare Flüssigkeit, sah genauso aus wie Pfefferminztee. Nur dass sie intensiver nach Henna roch. Ju verfolgte wieder jeden meiner Handgriffe.
„Ich bin grad echt gespannt, wie das wohl wird“, wobei er mich angrinste und wirkte wie ein kleines Kind, das Geschenke auspackte. Ich gab die nötige Menge Zucker in den Messbecher, schmeckte den Tee ab – okay, widerlich, so sollte es sein. Eine echte Herausforderung, wenn man diesen Geschmack nicht gewohnt war. Ich nahm mir vor, Julian vorsichtig darauf vorzubereiten.
„Okay, Hälfte für dich, die andere für mich. Trink erstmal einen ganz kleinen Schluck, damit du weißt, was da geschmackstechnisch auf dich zukommt. Ist extrem süß, bitterer Nachgeschmack. Und es kann sein, dass Deine Zunge davon taub wird. Keine Sorge, alles normal. Und dann runter damit und Skittles hinterher futtern.“
Jeder nahm sein Glas in die Hand. Wir stießen auf uns an und schauten uns dabei wieder tief in die Augen. Er könnte die Vorfreude nicht mehr verbergen, so verkatert er auch war, so blutunterlaufen seine Augen schienen – das Glitzern war unübersehbar. Ich schloss meine Augen und setzte das Glas an. Zug um Zug trank ich es aus, fuck, ich hab viel zu viel Zucker genommen… ich spürte, wie meine Zunge langsam taub wurde und trank das Glas in wenigen Zügen aus. Julian tat es mir gleich und schüttelte sich danach angewidert. Ich nahm ein paar Bonbons und reichte ihm dann die Schachtel. Innerhalb kurzer Momente waren die letzten geschmacklichen Reste des Tees im Mund Geschichte. Wir drückten uns noch die Kaugummis rein. Ich strahlte ihn an.
„Dann lass uns mal losgehen, damit wir im Park sind, bevor es losgeht.“
„Klar, puh, ich bin gespannt. Ich finds auch toll, dass du mich so gut darauf vorbereitet hast. Sonst hätte ich vielleicht abgelehnt. Aber ich vertrau dir da voll und ganz.“
Der Gemeindepark war nur ein paar Minuten Fußmarsch entfernt. Ju hatte nicht zu viel versprochen, es war hier idyllisch und fast menschenleer, damit hatte ich nicht gerechnet. Wir bummelten in eine der abgelegenen Ecken und setzten uns auf die Wiese.
„Woran merke ich denn eigentlich, wann die Wirkung losgeht?“
„Warts einfach mal ab. Du wirst das schon deutlich merken, vielleicht daran, dass du dich lieber hinlegen möchtest, um das richtig zu genießen. Wenn deine Arme schwer werden. Wenn es anfängt, in deinem Kopf zu kribbeln. Wenn du dich kratzen möchtest. Wenn du einfach nur noch grinsen möchtest.“
„Alles klar, das werd ich definitiv merken, denn eigentlich ist mir eher weniger nach Grinsen zumute.“
„Kann ich vollkommen verstehen, aber ganz ehrlich, eben in der Küche hast du gestrahlt wie ein Honigkuchenpferd.“
„Naja, weil ich einfach ganz glücklich bin, dass das so geklappt hat. Ich hätte nie gedacht, dass wir hier einmal zusammen im Park sitzen würden und uns abdichten.“
„Wieso denn nicht? Das ging doch eigentlich ziemlich schnell, oder?“
„Naja, ich hab nicht gedacht, dass ich dich mal näher kennenlernen würde.“
„Versteh ich nicht, erklär…“
„Warte mal, Timo. Kann das sein, dass es in den Schläfen anfängt zu kribbeln?“
„Jep, das ist ganz normal. Merkst du etwas in den Armen?“
„Noch nicht, aber ich denke mal, ich werd mich jetzt trotzdem hinlegen.“
Ich tat es ihm gleich, und so lagen wir beide im Schatten einer großen Eiche völlig ungestört im Park, genossen die Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach auf uns fielen. Und legten fast unbewusst den Grundstein für eine sehr spezielle Freundschaft.
„Wow, Timo, das fühlt sich grad an, als ob meine Arme auf den Boden gedrückt werden…“
„Ja, das glaub ich dir. Aber du fühlst dich wohl, oder?“
„Mhhh, und wie, aber das Reden wird gerade anstrengend…“
„Dann sei still, mach die Augen zu, genieß es einfach. Hör darauf, was in deinem Kopf gerade vor sich geht. Lass das alles einfach geschehen, Ju. Ich pass auf, dass nichts passiert.“

Und es drückt mich richtig in die Wiese rein, es ist, als ob ein warmer Schauer durch meinen Körper rast… es fühlt sich alles weich an, als ob die Wiese flauschig ist… und ich möchte gerade gar nicht, dass das aufhört… und Timo…

fortsetzung folgt...

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