Disclaimer: Diese
Geschichte ist Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen und
Ereignissen sind rein zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt. Das wäre ja
sonst ein roman à clef, und zu solchen literarischen Kunststückchen ist der
Autor sicher nicht fähig.
Identität – die
Geschichte von Timo und Julian
part 4
Sonnenaufgang
über Lichtenberg. Die Fenster meiner Wohnung zeigen nach Osten, die Morgensonne
scheint direkt auf mein Bett, das kann ich gut gebrauchen, weil ich morgens
Probleme mit dem Aufstehen habe. Zum Glück sind noch Sommerferien, da ist
ausschlafen angesagt.
Meine Wohnung
entspricht zur Zeit besonders dem Trash-Messie-Klischee. Es ist nicht nur der
Müll, der hier herumliegt, weil ich mich nicht zum Aufräumen aufraffen konnte.
Es ist auch die völlig veraltete Kesseltherme, die mit Gas erstmal eine ganze
Weile das Wasser aufheizen muss, bevor ich warmes Wasser aus der Leitung
bekomme. Es sind auch die Stromkabel, die gut sichtbar an der Flurdecke verlegt
wurden und wie als solches gedachte Dekoration die Zimmer schmücken. Es sind
auch die papierdünnen Wände, die mich am Privatleben meiner Nachbarn teilhaben
lassen: Oben Streits und reichlich Sex, neben meinem Bett LAN-Partys und laute
Schlagermusik.
Immerhin hat
es mich nicht so schlimm getroffen wie Meike, meine Nachbarin quer über den
Flur. Über ihrer Wohnung wohnen ein paar junge Erwachsene, die regelmäßig unter
der Woche derartig laute – und scheinbar auch zerstörerische – Feiern
veranstalten, dass die Polizei schon mehrfach des Nachts an unserer
Reihenhausscheibe geklingelt hat. Aber was erwarte ich, ich bewohne ein
spottbilliges Fleckchen Wohnraum, Adenauerstraße 11, in einem der miesesten
Vierteil von Lichtenberg, tief im Berliner Osten. Für das Referendariat. Es
sind rein pragmatische Überlegungen; meine Ausbildungsschule, das
Marx-Gymnasium, liegt nicht einmal einen Kilometer entfernt. Und ich habe kein
Geld.
An all diese
Gedanken hatte ich mich gewöhnt, so dass ich am Morgen nach unserem Treffen bei
Reg direkt zur Tagesordnung ging und mich ans Aufräumen machte. Ich hatte keine
Lust. Keine Lust, das Chaos hier zu beseitigen, keine Lust, etwas für die
Schule vorzubereiten. Keine Lust nach dieser grandios verpassten Chance
gestern. Ich beschloss, Reg zu schreiben und etwas von meinem Frust
loszuwerden, dass ich schon wieder gekniffen hatte.
Ich öffnete
Facebook, meine einzige Verbindung zur Welt außerhalb meiner Wohnung, in der
ich mich von meinen Mitmenschen abgeschottet hatte. Auf der Startseite begrüßte
mich der leuchtend rote Hinweis, dass ich eine Nachricht erhalten hatte – und
so sah ich, was Julian mir noch in der Nacht geschrieben hatte.
Scheiße.
Verdammte Scheiße, warum bin ich so eine feige Sau, warum bekomme ich nie mein
Maul auf, warum denke ich immer, dass ich es nicht wert bin, dass sich mal
jemand mit mir privat trifft, wo ist mein Selbstbewusstsein, wo ist mein
Selbstvertrauen? Das Referendariat hatte mir bis dahin systematisch mein
Rückgrat gekillt. „Herr Schneider, ihr Unterricht ist sehr ungewöhnlich. Warum
halten sie sich nicht an die Hinweise in den Fachdidaktiken, warum ziehen sie
keine pädagogische Literatur zu Rate, warum hören sie nicht auf ihre Mentoren?“
Ich kann das nicht. Ich habe ein ganz konkretes Konzept von Schule und
Unterricht in meinem Kopf. Ich kann mich nicht anpassen an die Erwartungen der
Anderen. Ich habe das jetzt ein Jahr lang versucht und bin regelmäßig
untergebuttert worden. Mein Unterricht hatte jegliche Authentizität verloren.
Von allen Seiten wurde mir suggeriert, dass ich überhaupt nichts mehr auf die
Reihe bekomme, dass ich für die einfachsten Dinge zu blöd sei. Julians
Nachricht passte wunderbar in dieses Denkmuster.
Dabei sollte
ich mich doch eigentlich freuen, oder nicht? Denn nun hatte ich die Gewissheit,
dass er an einem Gespräch mit mir interessiert war. Ich wusste nicht, warum,
wahrscheinlich sagte er das zu jedem, den er kennen lernte. Oder lag es eben
doch speziell an mir? Mir fiel wieder dieser Augenblick ein, diese zwei, drei
Sekunden zu viel, die ich in seine Augen gestarrt hatte, letzte Nacht am
Kleistpark. Das verwirrte mich alles noch viel mehr, ich konnte das nicht
einordnen. Ich entschloss mich, ein neues Treffen anzuberaumen. Nicht nur mit
Julian, bloß nicht, warum sollte er da zusagen, der würde sich doch bestimmt
denken, ich hätte irgendwas vor. Also schrieb ich eine Nachricht an Cory und
Julian, ob wir uns nicht am nächsten Wochenende bei Cory treffen wollten. Wraps
futtern, oder so, ich war mir sicher, dass so eine Verabredung weniger
„verbindlich“ wäre, unauffälliger eben. Und ich entschied mich dagegen, Reg zu
schreiben, weil ich Angst vor ihrer Antwort hatte. Vielleicht eine weitere
Zurechtweisung im Stile von „Wie kann ein Mann so kompliziert sein?“ – und das
konnte ich zur Zeit wirklich nicht gebrauchen.
Es dauerte
keine drei Stunden, bis ich die Antworten der Beiden hatte, zwei Zusagen,
großartig! Wir teilten uns die Einkaufsliste auf.
„Hey Julian,
soll ich uns vielleicht mal etwas zum Entspannen mitbringen? Weiß nicht, ob Du
an so was Interesse hast. Aber wir könnten uns dann ja zwei Stunden vorher bei
Dir treffen, chillen eine Runde, und dann fahren wir weiter zu Cory. Was meinst
Du, klingt gut?“
Welcher Teufel
hatte mich geritten, das zu schreiben? Und warum ist es so verdammt einfach,
eine Nachricht abzusenden, ein einfacher Klick, aber so unmöglich, diese
Nachricht zurückzunehmen? Nun sah ich sie die ganze Zeit im Nachrichtenverlauf
und kam mir so schlecht vor – und es wurde noch schlimmer, als ich plötzlich
dieses kleine Häkchen sah, den Hinweis, dass er die Nachricht gelesen hatte.
Ich hatte Angst vor der Antwort, ich schloss den Browser sofort, fuhr den
Rechner herunter, als könne ich damit verhindern, dass da irgendeine Antwort
kam. Raus hier, weg hier, ich verließ die Wohnung, ging zum S-Bahnhof, stieg
ein in Richtung Potsdam. Ich suchte mir einen Fensterplatz, dort saß ich gern,
schaute nach draußen und dachte nach. Wieder ein Fluchtversuch vor der eigenen
Verantwortung. Und im Hinterkopf immer wieder die Neugier, wie ein kleines
Teufelchen, das mit seinem Dreizack ohne Unterlass meinen Verstand piekste, das
wissen wollte, ob er wohl geantwortet hatte. Was er wohl geantwortet hatte.
Face the music, Timo, übernimm endlich mal die volle Verantwortung für Dein
Handeln. Nur so kannst Du irgendwann stärker werden.
Am Grunewald
stieg ich aus. Das Wetter war perfekt für einen Spaziergang durchs Grüne.
Während ich etwas abseits der vorgesehenen Pfade wanderte, wurde mir wieder
bewusst, wie allein ich zur Zeit war. Und wie sehr ich mit Julian befreundet
sein wollte, und wie sehr ich wieder in die City ziehen wollte, in die Nähe von
Cory und Reg. Sollte ich nur einen einzigen Wunsch für das neue Lebensjahr
haben, nahm ich mir vor, Lichtenberg endgültig hinter mir zu lassen.
Spießerschule, auf die hatte ich eh keinen Nerv mehr – nur weil sie nicht damit
klarkommen, dass ich kein Mainstream-Lehrer bin. Was sollte ich also vermissen,
wenn ich wieder in meine gefundene Heimat zurückkehrte?
Ich brauchte
dafür nur noch eines: Mehr Mut. Mehr Mut, die Brücken hinter mir abzubrechen,
mehr Mut, mich bei einer anderen Schule zu bewerben. Und mehr Mut, auf neue Freunde
zuzugehen. Vor meinem geistigen Auge sah ich wieder das Facebook-Häkchen.
Bestimmt hatte Julian inzwischen geantwortet. Wovor hatte ich solche Angst?
Dass er über mich lacht. Dass er denkt, ich würde ihn irgendwie mögen. Dass ihm
das peinlich ist. Dass ich mich in etwas verrenne? Dass er einfach absagt?
Letzte Nacht wäre er auch mit mir mitgekommen, wenn ich ihn einfach gefragt
hätte. Und worum ging es denn überhaupt, zwei Stunden vorher zu zweit bei ihm
verbringen, da ist doch nichts bei. Und wenn es nicht so toll läuft, wären wir
danach ja bei Cory, das würde die Spannungen rausnehmen. Und so oft, wie Julian
sich volllaufen ließ, sollte er eigentlich auch keine Hemmungen haben, mal
etwas Angenehmeres als Alk zu konsumieren. Worauf wartete ich?
Ich machte
mich auf den Heimweg. Vom Bahnhof Lichtenberg waren es noch etwa zwanzig
Minuten zu Fuß bis zur Adenauerstraße und ihren potthässlichen Reihenhäusern,
bei denen der Putz bröckelte, und überhaupt erweckte der Bau den Anschein, als
warte er nur noch auf seinen Abriss. Ich entledigte mich meiner Schuhe, holte
mir etwas zu trinken und klappte mein Notebook auf. Klasse, Timo, du bist
onlinesüchtig, hallte es in meinem Kopf. Mir scheißegal, in diesem Viertel gab
es ja sonst keinen Grund zu überleben, außer um regelmäßig seine Nachrichten zu
checken und sich anhand der News davon zu überzeugen, dass die Welt sich immer
noch dreht. Erster Klick: Facebook. Erster Blick: Eine neue Nachricht. Von
Julian.
fortsetzung folgt...
post scriptum: Das Autobahnkreuz Kiel-West - für die nächsten dreizehn Monate bin ich Stammgast!
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