Sonntag, 5. Juni 2016

Identität - Die Geschichte von Timo und Julian (part 3) - UMZUG!


"Warum lässt du die Geschichte eigentlich in Kiel spielen? Du hast als Autor doch alle Freiheiten, wäre es da nicht schöner, das Alles mal abseits vom eigenen Alltag spielen zu lassen?" - Da ist etwas dran. Warum Husum, warum Kiel? Meine früheren Romane haben auf der Titanic und in Berlin gespielt, und das habe ich sehr genossen. Also nehme ich jetzt einfach Timo, Julian, Cory, Reg und Malte und lasse sie nach Berlin umziehen - die Stadt ist eh' spannender als Kiel. Ändert aber nichts an der aktuellen Szene: Wir befinden uns in Regs Wohnzimmer, Eisenacher Straße 89, an einem wunderbaren Sommertag.

Und noch eine kleine Änderung: Viele kennen sicher diesen Gedanken, dass das eigene Leben einen speziellen Soundtrack besitzt. Für Timo hat Musik eine besondere Bedeutung. Er verknüpft sie mit Erlebnissen, die ihm wichtig sind. Daher werden in der Geschichte ab und an Songs auftauchen als zusätzliche Illustration seines Seelenlebens.


Disclaimer: Diese Geschichte ist Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen und Ereignissen sind rein zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt. Das wäre ja sonst ein roman à clef, und zu solchen literarischen Kunststückchen ist der Autor sicher nicht fähig.



part 3

Die Haare gehen gar nicht. Was macht der nur damit? Offensichtlich Haarspray, aber glaubt er ernsthaft, dass das gut aussieht? Vielleicht versucht er damit seine Geheimratsecken zu verstecken. Whatever, das waren damals die ersten Gedanken, während ich Reg umarmte. Julian stand auf, ging auf mich zu und gab mir die Hand. Wie höflich.
„Ich hab ne halbe Ewigkeit auf der Stadtautobahn gebraucht, Südring und Berufsverkehr, und das bei der Hitze, sorry, dass ich zu spät bin.“
„Das macht gar nichts, ich kenn das ja.“
„Charmant wie eh und je.“
„Für dich doch immer. Dafür hab ich mich ein bisschen mit Ju unterhalten.“
„Ja, wir haben über das Sommerfest geredet.“
Es klingelte wieder an der Tür.
„Das muss Cory sein.“
Reg betätigte den Summer und wir warteten auf den letzten Gast.
„Juhuuuuu!“ Ich könnte es mir nicht verkneifen, das ganze Treppenhaus zu beschallen, was von Cory mit einem sehr tuckigen „Hallooooaaahahaha!“ quittiert wurde.
„Caroline Ehrhardt. Damit wären wir vollständig.“
„Hör bloß auf damit, so hast du mich damals im Tutorium genannt. Ich hasse es, wenn man meinen Namen falsch drauf hat. So hat Frau Schnetzel mich im Griechischkurs immer genannt.“
Julian grinste breit.
„Ach, du hattest auch bei Frau Schneeeeeehtzel?“
„SCHNETTTZELLLLL!“ kreischten Reg und Cory gleichzeitig. Damit waren die Begrüßungsrituale abgearbeitet; wir gingen ins Wohnzimmer und machten es uns auf der Couch gemütlich, Julian, ich, Cory, Reg und am anderen Ende Malte. Julian fummelte aus seiner Hosentasche ein Handy hervor. Wie ich das hasse. Warum musste er gerade jetzt seine Nachrichten checken? Phubbing nennt man so was. Ehrlich gesagt, wenn ich ein Smartphone hätte, würde ich das vielleicht auch machen. Ich hab bisher noch keinen Bedarf gesehen und hey, auf diese Weise konnte ich wenigstens direkt an Gesprächen teilnehmen. Offensichtlich spielte die interessante Konversation sich zu meiner Linken ab.
Es tat so gut, endlich wieder im Kreis bekannter Gesichter zu sein. Erst in jenem Moment wurde mir bewusst, wie sehr mir meine Freunde fehlten. Es fühlte sich an wie Heimat, hier gehöre ich hin, hier darf ich ich sein. Und so verquatschten wir die Zeit, ich genoss die Ablenkung durch witzige Anekdoten, und je länger unser Treffen andauerte, um so sicherer wurde ich mir, dass ich wieder hierher zurück möchte, an meinen Ort.
Es wurde Abend. Ich hatte gar nicht mitbekommen, wie die Zeit verging. Das Gespräch mit den Anderen hatte ich bitter nötig gehabt, es fühlte sich an wie eine Oase, nachdem man eine halbe Ewigkeit lang die Wüste durchstreift hatte. Und ich dachte immer, ich sei ein Einzelkämpfer, ich brauche niemanden. Wie man sich doch irren kann.
Schließlich lösten wir die Runde auf, ich hatte noch eine ordentliche Fahrt vor mir und es war spät geworden.
„Ein kleiner Spaziergang durch die Nacht wird ganz angenehm sein“, meinte Ju.
„Bist du nicht mit dem Auto hier?“
„Doch, aber ich hab’ den Weg nicht genau im Kopf gehabt, ich war auf der Suche nach einem guten Parkplatz und hab’ den Wagen dann am Kleistpark abgestellt.“
„Am Kleistpark? Das ist ja mindestens eine halbe Stunde zu Fuß, von wegen kleiner Spaziergang.“
„Ach, das macht nichts…“
„Ich fahr’ dich einfach schnell rum, für mich ist das kein großer Umweg“, meinte ich. Mir wurde schlagartig bewusst, dass ich doch eigentlich etwas mehr mit Julian sprechen wollte. Den ganzen Nachmittag hatte er immer wieder auf sein Handy gestarrt und wirkte reichlich lethargisch. Vielleicht erzählt er ja, was los ist, wenn ich ihn zu seinem Wagen fahre, dachte ich mir.
„Okay, das Angebot nehme ich gerne an.“
Und so taperten wir durch die Dunkelheit. Wir hatten uns herzlich voneinander verabschiedet und beschlossen, dass das nächste Wiedersehen nicht so lange auf sich warten lassen dürfe. Und ich hatte den Entschluss getroffen, dass ich wieder umziehe. Ich konnte Ju hinter mir nur hören; die Laternen, die den Parkplatz beleuchten sollten, waren kaputt. Vielleicht wieder jugendliche Randalierer, das war bei uns keine Seltenheit.
„So, steig’ ein, dann bringe ich dich jetzt mal eben rum. Kleistpark, ja?“
„Genau, ganz in der Nähe des U-Bahnhofs.“
Er auf dem Beifahrersitz, ich mit den Händen am Lenkrad. Es war ziemlich ruhig geworden, ich legte eine CD ein und versuchte, mich auf die Straße zu konzentrieren. Das war ein Problem: Während der gesamten Fahrt sausten die Gedanken durch meinen Kopf, von allen Seiten, nach allen Seiten, was soll ich ihn denn jetzt fragen? Worüber möchte ich jetzt mit ihm reden? Überleg Dir schnell was, Timo, in ein paar Minuten sind wir schon da. Sei doch verdammt noch mal nicht so schüchtern, trau Dich, irgendeine harmlose Frage…
„…was für einen Wagen fährst du eigentlich?“ hörte ich mich sagen. Definitiv harmlos.
„Ja, wahrscheinlich bekomm ich gleich wieder nen doofen Spruch ab, Asi-Karre, Rentnertaxi oder so. Ich fahr nen alten Mercedes Benz.“
„Wieso doofer Spruch? Klar ist das ne Mackerkutsche, aber wenn das Auto dir gefällt, ist doch super. Scheiß auf die Sprüche.“
„Naja, man wird halt gleich als dummer Macho-Arsch abgestempelt. Aber ich mag den Wagen echt sehr, er ist schwarz, und ich bin dabei, ihn noch schwärzer zu machen.“
„Passt dann ja so gar nicht zu deinem Outfit heute.“
„Stimmt, ich bin weiß und du bist schwarz, eigentlich solltest du den Wagen fahren.“
„Also hier sind wir am Kleistpark, sag einfach Stopp, wenn ich anhalten soll.“
„Da vorne steht er schon, kannst mich hier rausschmeißen.“
„Naja, zum Wagen komm ich noch mit.“
Und dann standen wir da im schwachen Licht einer Parklaterne, Julian suchte in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel und ich hatte immer noch nichts Sinnvolles gesagt. Kein Gespräch. Warum traust du dich nicht? Was soll denn schon passieren?
„Ja.“
„Ja.“
„Okay, äh…“
„Dann… komm gut nach Hause, fahr vorsichtig.“
„Danke, du auch!“ Und dabei schauten wir uns in die Augen. Für einen Moment war alles ausgeblendet. Ich komme nicht damit klar, wenn ich Menschen in die Augen schaue. Ich schaue dann schnell wieder weg, senke den Blick, nach maximal zwei Sekunden muss ich woanders hinschauen. Ich bekomme sonst das Gefühl, dass ich aufdringlich bin, und er soll ja auch nicht denken, dass ich irgendein Interesse an ihm hätte. Und deswegen schaue ich Menschen, die ich nicht so gut kenne, nur ungern in die Augen. Normalerweise.
Ich weiß nicht, was an dem Tag anders war. War es die Nacht, die sommerliche Luft, der schöne Tag? Ich schaute Julian tief in die Augen, bis er es schließlich war, der seinen Blick abwandte.
So gingen wir jeder seines Weges in die Nacht. Ich hatte es mal wieder verbockt. Warum hab ich ihn nicht einfach gefragt, ob wir noch ein bisschen reden wollen? In Ruhe. Immer, wenn es drauf ankommt, mache ich einen Rückzieher. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie viele gute Gelegenheiten ich bisher verpasst habe.
Ich lenkte den Wagen auf den Südring, ich hatte noch eine kappe halbe Stunde, bis ich wieder in Lichtenberg in meiner Wohnung war. Keine Wolken, fast Vollmond, und ich hörte die CD weiter, die ich mit Ju im Auto gehört hatte. Und ich konnte mich nicht entscheiden, ich war glücklich, entspannt und entschlossen, mein Leben wieder hierhin zu verlagern, ich hatte einen tollen Abend mit den Menschen, die mir etwas bedeuten und die ich auf dem Weg ins Referendariat hinter mir gelassen hatte. Eigentlich sollte ich mich freuen. Aber wie das nun mal so ist, fing ich an, mich über meine Feigheit aufzuregen. Es hätte doch noch so nett werden können, wenn ich endlich mal mein Maul aufbekäme. Fuck, ich hab’s verbockt.
Um den Tag positiv in Erinnerung zu behalten, schrieb ich Julian mitten in der Nacht noch eine Nachricht mit einem kurzen Resümee des Treffens.
„Hey Ju, schön, dass du kommen konntest, ich fand, das war ein netter Abend. Können wir ja vielleicht mal wieder machen. Ehrlich gesagt… ich hätte dich am Kleistpark am liebsten noch gefragt, ob wir nicht noch in den Park gehen wollen und noch ein bisschen reden, einfach zu zweit. Ich weiß auch nicht, was mich davon abgehalten hat, naja, aber vielleicht sehen wir uns ja bald mal wieder.“
Schön, Timo, das nennst du jetzt also Mut. Papier ist geduldig, soll diese Nachricht wett machen, dass ich mich nicht getraut habe, ihn direkt anzusprechen? Du bist so erbärmlich, jede Chance, einen Typen kennen zu lernen, machst Du kaputt mit deinen Rückziehern.
Ich merkte, wie meine Stimmung kippte, also legte ich mich ins Bett und versuchte einzuschlafen. Gedankenchaos. Wenn ich ein wenig länger wach geblieben wäre, hätte ich Julians Antwort noch lesen können – denn sie sollte das ganze Erlebnis ungemein aufwerten:
„Hey Timo, ich fands auch total nett, das können wir gern mal wieder machen! Ich hätte tatsächlich Lust gehabt, mich in der Nacht noch von Dir in den Kleistpark entführen zu lassen, um ein bisschen Zeit zu zweit zu haben. Wir holen das einfach irgendwann nach. Liebe Grüße, Ju“

fortsetzung folgt...

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