Mittwoch, 16. Juni 2021

Im Kopf


So langsam sollte ich lernen, diesem Kopf zu vertrauen. Darin geht eine Menge ab, von dem die Außenwelt (zum Glück) nichts mitbekommt. Nur ein Beispiel:

Nehmen wir einmal an, ich würde einen Schüler in Q1 in Latein unterrichten - wir erinnern uns, dass es mit fünf Punkten im Jahresendzeugnis das KMK-Latinum gibt, das erste richtige Fremdsprachenzertifikat für die jungen Menschen. Nehmen wir nun einmal an, dass jener Schüler wirklich nichts in dem Jahr gemacht hat. Hat im Unterricht Langeweile zur Schau gestellt, hat das alles nicht für nötig gehalten, hat dann schriftlich null und mündlich mit viel Wohlwollen drei Punkte bekommen. Mit noch mehr Wohlwollen dann drei Punkte im Zeugnis. Nehmen wir weiterhin an, dass auf der Zeugniskonferenz dann der Oberstufenleiter zu mir käme und mich darum bäte, dem Schüler doch bitte fünf Punkte zu geben, damit die neue Schulleitung nicht gleich Stress mit den Eltern bekommt. Nehmen wir an, ich täte das, mit einem gebrochenen Herzen. Ich würde dem Schüler am liebsten eines sagen wollen:

"Sie leben in einer Welt, in der sie sich mit Geld und Einfluss alles kaufen können. Ich frage mich, ob sie jemals das Gefühl verspürt haben, etwas selbst erreicht zu haben."

Natürlich würde ich das dem Schüler nicht direkt sagen dürfen, aber für mich stünde dieser ungesagte Satz ziemlich dringlich in meinem Kopf da. Also würde ich in einer Meditation die gesamte Szene in aller Ruhe und mehrfacher Wiederholung durchspielen, mit jeweils anderem Tonfall, aber die Botschaft bleibt unverändert. Am Ende der Meditation wäre dieses dringliche Gefühl weg. Ich wäre entspannt, obwohl ich etwas gemacht habe, was ich mit meinem Latinistengewissen nicht vereinbaren kann. All' das kann in diesem Kopf stattfinden.

Warum schreibe ich das? Weil ich vorhin überlegt habe, ob ich den Opernboogie zur Sicherheit und zum Lernen einmal ausdrucken soll, in der für die Toni angepassten Version. Und ich habe mich dagegen entschieden. Ich bringe endlich einmal den Mut auf, auf meinen Kopf zu vertrauen, der dieses Stück vor dreizehn Jahren gelernt hat. Und so gehe ich heute gemütlich in die Innenstadt und passe dabei in meinem Kopf den Text an, so wie es nötig ist. Ich spiele den Opernboogie mehrmals durch, ohne ein einziges Wort zu sagen. Ich habe mir den Text nicht ausgedruckt. Ich habe nicht einmal die Datei am Bildschirm geöffnet.

Dieses Vertrauen in das eigene Vermögen ist etwas, was Hochbegabte oftmals nicht haben. Lasst uns also versuchen, unsere HB-Schüler zu stärken - gerade die Underachiever. Macht ihnen klar, dass sie etwas Besonderes sind, und dass ihr Kopf etwas kann, was nicht viele andere Menschen können. Macht ihnen klar, dass das ein Potential ist, dass diese Hochbegabung tatsächlich auch ihre positiven Seiten hat und nicht nur die Probleme, mit denen sie sich immer wieder konfrontiert sehen.

Hochbegabung ist keine Gnade, aber sie bietet Möglichkeiten.

Im Kopf.

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