Samstag, 21. September 2019

An mein jüngeres Ich

Freiheit - sooo viele Entscheidungen...

Lieber Dr Hilarius!

Ach ne, den Namen kennst Du wahrscheinlich noch gar nicht, und niemand würde auf die Idee kommen, Dich so zu grüßen. Das fängt ja toll an, ich möchte einen Brief an Dich schreiben und schaffe es nicht einmal ansatzweise, mich in Dich hineinzuversetzen. Also... wie hatten sie Dich damals noch genannt?

Moin Homie!
*ToolTime-Gruß*

Hier spricht Dein zukünftiges Erwachsenen-Ich und möchte an Dein jugendliches angepasstes Kind-Ich appellieren. Ach fuck, das geht ja auch wieder nicht, Du bist womöglich erst in der fünften Klasse und hast noch nie etwas von der Transaktionsanalyse gehört. Also versuche ich das jetzt ganz einfach zu machen. Es kann natürlich sein, dass die Dinge für Dich anders laufen werden, als sie für mich gelaufen sind. Heute, ein Vierteljahrhundert in der Zukunft, lebe ich nach dem Motto Nichts bereuen! und halte mich auch daran, so gut es geht. Ich versuche, nichts zu tun, was ich später einmal bereuen werde, und ich versuche, nicht zu bereuen, was ich einmal getan habe. Wenn es Dinge gibt, die ich bereue, Taten oder Denkweisen, dann liegen sie in meiner Jugend, und genau deswegen schreibe ich Dich jetzt an und gebe Dir ein paar Hinweise. Ich weiß, Dein Querkopf wird sie ignorieren, aber dann kannst Du später wenigstens nicht behaupten, niemand hätte Dich gewarnt.

Ich habe keine Ahnung, wie alt Du jetzt gerade gewesen sein wirst, also ordne ich meine Punkte im Ansatz chronologisch an. Schon in der Grundschule hat man über Dich gesagt, Du würdest Ordnungssysteme in Schriften favorisieren - na denn. Wahrscheinlich liest Du diesen Brief gerade in einer ruhigen Phase - ruhig für Dich, weil Du mal wieder aus dem Unterricht geflogen bist. Reiß' Dich mal zusammen.

Solltest Du noch in der fünften Klasse sein, nimm' Dir bitte dies zu Herzen: Wirf' auf der Klassenfahrt nicht KS in die Wakenitz! Es ist wirklich nicht lustig, zusammen mit anderen Jungs eine Mitschülerin in einen Fluß zu werfen. Das sagt nicht nur der gesunde Menschenverstand; KS wird danach mit einem Küchenmesser auf Dich losgehen, und auch wenn Du selbst das witzig finden wirst, und auch wenn Deine Mitschüler Dich vor ihr beschützen - lass' es bleiben. Du verletzt damit jemanden sehr empfindlich, und ich bin mir sehr sicher, dass Du selbst das nicht wollen würdest. Und wenn Du mir das nicht glauben willst, dann warte ab, bis Du in die achte Klasse kommst und sich die Fronten tauschen. Oder schau Dir den Film Flatliners (1990) an, dann erlebst Du, wie sich so etwas später rächen kann. Nimm' das Original, nicht die Neuverfilmung, auch wenn Ellen Page da mitspielt. What the fuck, Du interessierst Dich ja noch gar nicht für Filme!

Irgendwann fangen sie alle an, Alkohol zu trinken. Das beginnt mit Bier, endet dort aber längst nicht - hallo? Herzlich willkommen in Dithmarschen, hier wird man mit einer Buddel Korn in der Hand geboren. Dir werden betrunkene Menschen wahrscheinlich auf die Nerven gehen, erst recht auf Klassenfahrten, wenn Du davor nicht weglaufen kannst. Wie wäre es denn, wenn Du das alles einfach mal ein bisschen lockerer siehst? Nicht in einen "Auf gar keinen Fall Alkohol"-Krampf fallen, denn es wird Deine Mitmenschen, Familie und Freunde zwar immer wieder erstaunen, dass Du nicht einmal zum Abitur und Führerschein mit Sekt anstößt, und daraus leitest Du dir ein starkes Rückgrat ab (und nach dem Mobbing in der Mittelstufe kannst Du das gut gebrauchen; ja, Du wirst gemobbt, und seien wir mal ehrlich, nach der KS-Geschichte hast Du dir das auch verdient, mal die andere Seite vom Mobbing zu erleben), aber wie wäre es einfach mal, das Leben ein bisschen zu genießen, anstatt immer nur auf irgendwas in der Zukunft zu warten? Man nennt solche Sachen nicht ohne Grund Genussmittel. Und hör auf, in Bandwurmsätzen zu schreiben, nur so am Rande, denn das wirst Du dir sonst niemals abgewöhnen können.

Ach ja, Sex. Du wirst merken, wie um Dich herum plötzlich jeder mit jedem in's Bett steigt - natürlich nur Jungs mit Mädchen, denn wir sind in Dithmarschen, und etwas Anderes ist dort einfach nicht zulässig. Aufklärung braucht Zeit. Ist vielleicht keine blöde Idee, mit Deinem Outing noch ein Weilchen zu warten, nur solltest Du dir dafür keine Vorwürfe machen, und nicht irgendwelche Gedanken von "Ich habe keinen Sex, was mache ich falsch?" - alles ganz entspannt, irgendwann wirst Du Dithmarschen und die Neunziger verlassen und an eine Universität gehen, an der Vielfalt gelebt wird.

Vielfalt gibt es übrigens auch in Berufen. Du musst nicht Lehrer werden wollen, nur weil sich das quer durch Deine Familie zieht. Vielleicht studierst Du ja etwas völlig Anderes? Und falls Du doch Lehrer werden möchtest, dann auf keinen Fall Latein. Wobei... ich habe das falsch formuliert. Lass' Dir nicht einreden, mit Latein wäre es später ein Kinderspiel, an eine feste Stelle zu kommen. Ganz im Gegenteil, Latein wird ein Hemmschuh, ein Klotz am Bein, der Dir Wege in andere Schulformen versperrt. Latein wird Dich arbeitslos machen. Als Gegenleistung lernst Du in diesem Studienfach wirkliche Freaks kennen, Menschen wie Dich, und Du musst abwägen, ob es das wert ist. Ob Du erleben möchtest, dass Nerdsein okay ist.

Und wo ich schon bei Gedanken bin, die schwachsinnig sind: Viele Leute werden immer und immer wieder sagen, Du sollst Dich in Ehrenämtern engagieren, das macht sich gut im Lebenslauf. Was für ein Unsinn, scheiß' auf's Ehrenamt, kostet nur Zeit. Kein Mensch von Bedeutung in Sachen Jobsuche wird jemals der Auflistung von Ehrenämtern in Deinem Lebenslauf Gewicht zumessen. Es ist viel wichtiger, dass Du gut gekleidet bist. Scheiß' auf den Idealismus "Menschen nach inneren Werten beurteilen", so funktioniert die Welt einfach nicht. Es sei denn, Deine persönliche Entwicklung ist Dir wichtig: Dann bleibe dabei. Denn die diversen Ehrenämter werden Dich persönlich bereichern. Du wirst Menschen aus anderen sozialen, kulturellen, universitären Kreisen kennenlernen, Du wirst Deinen Horizont erweitern, und Du wirst irgendwann das tolle Gefühl erleben dürfen, Deinen Mitmenschen geholfen zu haben. Wenn Dir das etwas bedeutet.

Deine Entscheidung. Denk' drüber nach!

Verschmitzte Grüße aus einer Weltraumbasis aus der Zukunft,

Ich a.k.a. Du

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