Dienstag, 3. September 2019

Spezieller Bedarf

Die Sichtweise eines Regisseurs ist nicht zwangsläufig eine, die ich gern hätte...

Wer schon einmal in einer I-Klasse unterrichtet hat (und eigentlich auch jeder andere Mensch ohne Scheuklappen), weiß, dass es Schüler gibt, die von Mutter Natur nicht mit dem ganz normalen, unproblematischen Gencode ausgestattet worden sind. Sie sind ein bisschen anders. Das kann seine positiven Seiten haben, aber für viele Menschen bringt diese Konfiguration auch Probleme mit sich. Aus diesem Grund haben jene Schüler ein Recht darauf, ihren Eigenschaften entsprechend speziell gefördert zu werden. Man spricht von Schülern mit einem Förderbedarf, und von diesen Bedarfen gibt es mehrere Sorten. Wer an einer Gemeinschaftsschule unterrichtet, kennt das. Lernen, emotionale/soziale Entwicklung, autistische Verhaltensweisen und derähnlichen mehr. Wobei ich sehr stark davon ausgehe, dass auch die Gymnasiallehrer unter uns mit solchen Schülern zu tun haben; sie werden nur hin und wieder nicht als solche erkannt ("Mein Kind soll bitte normal sein!"). Ich habe das schonmal irgendwo gehört.

Eine weitere Kategorie dieser speziellen Bedarfe nennt sich Hollywood. Aus irgendeinem Grund (oder nennen wir das Kind doch gleich bei'm Namen: Geld) scheint ein sehr großer Teil der Hollywoodfilme nicht ohne gewisse Eigenschaften auszukommen: Happy Ending, heterosexuelle Romanze, implausible Action, leicht verdauliche Kost ohne große Nachwirkungen, groß, bunt, laut. Und das finde ich schade.

Ich habe heute Richard Mathesons Roman I Am Legend (1954) zuende gelesen. Eine der einflussreichsten Geschichten aus der Science Fiction-Ecke, über einen Mann, der als einziger eine Pandemie überlebt und quasi der letzte Mensch auf Erden ist - und versucht herauszufinden, was passiert ist und wie er mit der Situation umgehen soll, und vielleicht sogar ein Heilmittel, oder aber ein Vakzin zu finden. Großartiger Roman, dessen Hauptfigur ein ganz normaler Mensch wie auch dieser Autor ist. Düster-realistisch wird hier eine postapokalyptische Welt beschrieben, in der in Frage gestellt wird, was eigentlich menschlich ist.

Spoilerwarnung!

Ich habe mir dann direkt eine der mittlerweile drei Verfilmungen der Geschichte angesehen, und zwar I Am Legend (2007) mit Will Smith in der Hauptrolle des Robert Neville. Das Ansehen hat sich ein wenig angefühlt, als würde ein Zug entgleisen, erst nur etwas wackeln, dann deutlicher, dann springt das Rad aus der Schiene und im dritten Akt ist alles verloren. Der Förderbedarf Hollywood hat dafür gesorgt, dass kaum noch etwas von dem erhalten ist, was den Roman ausmacht.

Nur ein Beispiel. Im Roman versucht Neville über mehrere Kapitel, einen Hund, der noch nicht von der Krankheit befallen zu sein scheint, für sich zu gewinnen. Er kommt nur in winzigen Schritten auf der Suche nach einem Freund voran, doch schließlich, nach etwa fünfundzwanzig Seiten, kann er den Hund in seinem Haus füttern und auf seinem Schoß sitzen lassen. Nächster Satz: "Within a week the dog was dead." - Nichts weiter. Grausam, kalt, nihilistisch und ohne viel schmückendes Beiwerk versinnbildlicht diese Passage die Hoffnungslosigkeit in einer Welt, in der Neville selbst der einzige ist, der zu überleben scheint.

Im Film dagegen hat Will Smith seinen Hund von Anfang an und kann über die Hälfte der Spielzeit hinweg mit ihm durch die Gegend fahren, spielen, reden - dass der Hund dann allerdings wie auch im Roman stirbt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Hollywood manchmal etwas Angst davor hat, mit nur einem Darsteller und ohne Dialoge auszukommen (zum Glück nicht immer, wie uns Robert Redford in All Is Lost (2013) beweist).

Ähnliche "Stimmungsaufheller" finden sich über den gesamten Film verteilt, bis hin zu einem fröhlichen Ende, in dem doch tatsächlich einige Menschen überleben (Will Smith nicht). Das hat leider mit der Romanvorlage überhaupt nichts mehr zu tun, in der Robert Neville tatsächlich auf weitere Lebende trifft, die allerdings mit der Krankheit infiziert sind und lernen, damit umzugehen. Auch hier gibt es also Überlebende, auch hier stirbt Neville am Ende, aber weil er der Letzte einer sterbenden Rasse ist - was auch die Schlussworte "I am legend." erklärt. Dieses quasi transformative Ende wurde in dem Film The Girl With All The Gifts (2016) wesentlich treuer umgesetzt.

Sorry für das Rumjammern. Letztlich ist das ein altbekanntes Problem, wenn man zuerst die Romanvorlage gelesen hat. Man denkt sich bei dem Begriff Verfilmung, dass es sich um eine originalgetreue Verfilmung handelt, aber letztlich sind so viele Filme einfach nur loosely based on... - dabei kann auch so eine Neuinterpretation richtig gut werden; in einem der nächsten Beiträge werde ich über Jack Finneys Roman The Body Snatchers (1955) schreiben und darüber, welche Verfilmung mich am meisten fasziniert hat.

Beide Romane lassen sich übrigens wunderbar im Englischunterricht der Oberstufe einsetzen.

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