Montag, 23. September 2019

Die Frage "Warum?"

What are you doing?

"Ich verstehe das nicht, das passt nicht zusammen. Wie kann es sein, dass der beliebteste Lehrer dieser Schule so einen Aussetzer vor der gesamten Klasse hat?"

Auf meiner Fensterbank steht eine Sanduhr, in der der Sand von unten nach oben läuft.

An einer Stelle meiner Wohnung zieht sich ein dicker Riss durch die Wand, von der Decke bis zum Fußboden.

Aus den X-Files: Ein Mann fügt sich einen kleinen Schnitt durch eine scharfe Papierkante zu, während er die Post weiterleitet - bis die Digitalanzeige der Sortiermaschine ihm plötzlich befiehlt, all' seine Mitmenschen zu ermorden.

Ein Schüler mit einem IQ über hundertdreißig, der nicht einmal seinen MSA macht.

Phänomene jeden Tag, und ein paar der obenstehenden können sicherlich ganz leicht erklärt werden. Andere, not so leicht. Ist die Frage, ob man überhaupt der Frage nachgehen möchte, warum die Dinge sind, wie sie sind.

Mein Gehirn ist so konfiguriert, dass es am liebsten auf jede einzelne Warum-Frage eine Antwort hätte. Ich habe eine intrinsische Motivation, die Welt um mich herum zu verstehen, und je abstruser ein Zusammenhang zunächst erscheinen mag, umso faszinierender ist es für mich, die Mechanismen dahinter zu entdecken. Ich kann nicht sagen, seit wann das so ist. Es fühlt sich an, als hätte mich schon immer fasziniert, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Dass der tag Verhaltensmuster einer der meistverwendeten in diesem Blog ist, scheint symptomatisch dafür zu sein.

Menschliches Verhalten interessiert mich. Warum lügen wir Menschen an, die wir lieben? Warum tun wir Dinge, auch wenn sie uns gesundheitlich schaden? Warum bleiben wir manchmal absolut stur, auch wenn der gesunde Menschenverstand uns doch davon abbringen müsste? Ich möchte das verstehen.

Ich möchte verstehen, warum A sich im Unterricht nie meldet. Ich möchte verstehen, warum B mit blauen Flecken in die Schule kommt. Ich möchte verstehen, warum C der Abschluss vollkommen egal ist. Ich möchte wissen, warum D sich mobben lässt. Ich möchte verstehen, warum E seine Schüler so "gemein" behandelt. Ich möchte das alles verstehen, weil ich dann vielleicht mit etwas weniger Blockierhaltung auf Gespräche mit diesen Menschen zugehen kann. Ich weiß noch, wie ich im Studium einen Spruch kennengelernt habe: "Man muss nicht immer alles gutheißen, was Andere tun, aber man sollte es zumindest verstehen wollen."

Und dann gibt es Menschen, die vielleicht auch gern verstehen möchten, warum jemand so tickt, wie er es tut, aber viel wichtiger ist ihnen die Frage, wo wir von hier aus hinsteuern. Ein progressiver Gedanke: "Wie gehen wir mit der Situation um? Wie können wir daran etwas verändern?" Für einen Lehrer ist das eigentlich eine tolle Denkweise, weil man so viel intensiver mit der Situation - womöglich in der eigenen Klasse - arbeiten kann. Man kann schneller an Klassenkonflikte herangehen.

Bei mir ist das anders.

Ich möchte irgendwie immer verstehen, warum Menschen sich so verhalten. Ich lasse Schüler in Gesprächen viel erzählen, vielleicht auch, um meine eigene Expertise in Sachen "Warum sind wir Menschen so?" zu erweitern. Und mit genau diesem Gedanken gehe ich an mich selbst heran: Warum tue ich die Dinge, die ich tue? Auch wenn sie von außen irrational erscheinen? Auch wenn ich immer wieder auf Unverständnis damit bei manchen Mitmenschen stoße; für mich ist es wichtiger, das Warum durchblicken zu können. Damit ich irgendwann nachvollziehbar auf Fragen antworten kann wie diese, aus dem Jahr Zwanzigvierzehn, aus St.Peter-Ording:

"Ich verstehe das nicht, das passt nicht zusammen. Wie kann es sein, dass der beliebteste Lehrer dieser Schule so einen Aussetzer vor der gesamten Klasse hat?"

Es gab damals einen Vorfall an der Schule, der ordentliche Wellen geschlagen und schließlich zu einem Klärungsgespräch mit allen Beteiligten geführt hat. Aufgrund der Verschwiegenheit gehe ich an dieser Stelle nicht in's Detail, sondern zähle nur die Frage der Elternvertreterin sowie der Heimleitung auf, für die dieser Vorfall absolut nicht in das Bild des Lehrers DrH gepasst hat. Hell, für die Schulleitung, die Supervisionsleiterin, die SozPäd und die Klassenleitung auch nicht. Dieser Vorfall war absolut nicht nachvollziehbar. Auch für mich nicht, und deswegen habe ich mich lange damit beschäftigt, um in diesem klärenden Gespräch eine Antwort darauf geben zu können. Und das hat auch geklappt - allerdings ist in meinem Kopf bis heute der Wunsch verhaftet, diesen Vorfall wissenschaftlich fundiert zu erklären.

Deswegen bin ich auf der Suche nach einer Diagnose, egal, wie diese Diagnose am Ende genau lautet.

Denn seitdem ich den Wunsch danach geäußert habe, fragen mich Menschen immer wieder: "Und dann?" - eine Frage, die ich anfangs nicht verstanden habe. Wieso "und dann"? Ich möchte verstehen, warum ich ticke, wie ich das tue. Ich möchte verstehen, warum es in meinem Leben trotz aller Bemühungen immer wieder vereinzelte Ausbrüche gibt, die zu für alle Beteiligten unangenehmen Situationen führen.

Was meine Mitmenschen mich wohl fragen wollen, mit diesem "und dann?", ist, wie ich danach mit der Situation umgehen möchte, und die meisten erwarten dann irgendeine Form der Therapie. Um meine sozialen Kompetenzen zu verbessern und meinen Alltag problemloser zu gestalten. Kann ich verstehen, aber darum geht es mir zu diesem Zeitpunkt nicht. Ich möchte erstmal verstehen, warum ich so bin; genau wie oben beschrieben ist mir das momentan wichtiger. Momentan meine einzige Frage, auf die ich eine Antwort suche.

Und es ist schwierig, das den Menschen zu erklären, die mir dann zu verstehen geben, dass aber doch die Therapie danach viel wichtiger sei, und dafür brauche ich ja eigentlich noch nicht einmal eine Diagnose. Eigentlich könnte ich doch direkt jetzt mit der Therapie beginnen. Diese Frage kommt häufiger, und sie fühlt sich jedesmal unangenehm an, weil ich sie so verstehe, als ob ich auf dem völlig falschen Weg bin (Watzlawick lässt grüßen). Dabei ist genau das momentan mein Ziel - die vergangenen sechsunddreißig Jahre besser verstehen zu können. Wie ich damit umgehe, wie ich danach damit arbeite, darüber können wir gern reden, aber jetzt, an dieser Stelle, ist die Frage für mich irrelevant.

Und wird auch noch ein Weilchen irrelevant bleiben. Deal with it. ;-)

post scriptum: Und diesen Beitrag sollte ich mir ausdrucken und in meinen Psych-Ordner abheften, denn diese Frage werde ich wohl noch öfters erklären müssen. Kann eigentlich auch gleich in die "Thema"-Beiträge.

paulo post scriptum: Total faszinierend, da begegne ich hier im Viertel einem meiner ehemaligen Schüler, der jetzt hierher gezogen ist, und plötzlich rattert mein Gehirn wieder los und alles, was es damals an Klärungsbedarf mit Mutter und Kind und Schule gab, das alles ist wieder da, als wäre es gerade erst gewesen...

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