Donnerstag, 30. Mai 2019

Musik im Unterricht


Ich hatte heute einen kleinen Nostalgieflash, der mich zurückversetzt hat - in's Studium und an meine erste Schule damals im Referendariat. Es geht um die Einbindung von Musik in den Unterricht, und das wird auch wieder ein Beitrag, den ich links an die Linkliste anpinne. Ich sollte da einmal aufräumen.

Ich hatte damals an der Uni gerade das Genre progressive metal für mich entdeckt, und das aus einem ganz banalen Grund: Mich faszinierten Songs, die eine längere Spieldauer hatten als die üblichen radiotauglichen drei Minuten und dreißig Sekunden. Ich habe gemerkt, wie ich es genießen konnte, mich in einen Song hineinfallen zu lassen, quasi in die Strömung zu gehen und mich treiben zu lassen (so wie bei Entheogenics Love Letters to the Soul). Das nämlich ist das progressive Element dieses Musikgenres: Es gibt keine klassische Intro-Strophe-Refrain-Strophe-Refrain-Bridge-Refrain-Struktur. Stattdessen entwickeln die Songs sich weiter, haben eventuell ein Leitmotiv - oder auch nicht - und sind, genaugenommen, episch, denn sie erzählen eine Geschichte (wenn Herr Leinhos das liest, wird er sich vielleicht freuen, dass endlich mal wieder ein sprachetymologischer Punkt in einem Beitrag auftaucht).

Wenn ein Album komplett aus solchen Erzählungen besteht, nennt man das ein Konzeptalbum, denn es sind nicht nur einzeln eingespielte Songs, sondern ein quasi literarisches Gesamtwerk. Das gibt es in mehreren Genres, nicht nur im metal, sondern zum Beispiel auch im goa/psytrance. Und das wiederum qualifiziert manche Alben dafür, im Englischunterricht behandelt zu werden.Sie haben verschiedene Charaktere, sind eingebunden in Psychologie, SciFi etc, können anspruchsvoll oder einfach unterhaltsam sein.

Ich liebe Musik und gebe immer viel von mir selbst in meinen Unterricht, also ist es nur konsequent, dass ich nach Möglichkeiten gesucht habe, ein solches Konzeptalbum in meinem Unterricht unterzubringen (natürlich immer auf die Gefahr hin, dass ein Teil der Schüler die Musik grausig findet - ja, das ist so, sie haben ihre eigene, oft ganz andere Musik, und als Lehrkraft muss ich trainieren, es nicht persönlich zu nehmen, wenn sie meine Musik nicht mögen - gilt auch für Filme, Romane etc).

Ein Beispiel für diese Einbindung möchte ich kurz vorstellen, denn das hatte ich ursprünglich einmal für einen E-Jahrgang in der Sekundarstufe Zwei geplant. Dabei fällt mir auf, dass meine idiosynkratische Schreibweise (z.B. häufiges Ausschreiben von Zahlen) mit der Hochbegabung zusammenhängen könnte - mit dem wirren Gedankenmischmasch in meinem Kopf, denn das lässt mich an Thomas Pynchon und Arno Schmidt denken (KAFF auch Mare Crisium oder Zettels Traum).

Zurück zu Musik, und zum Album The Human Equation (2004) des Niederländers Arjen Anthony Lucassen, unter dem Projektnamen Ayreon. Man könnte sehr viel über ihn schreiben, aber das spare ich mal, und erzähle lieber - um Euch nicht zu langweilen, paying lip service, whatever - warum ich das Werk in meinem Unterricht haben wollte.

Die Geschichte handelt von einem Mann, der nach einem Autounfall in's Koma gefallen ist. Mit einem Song pro Tag werden die nächsten zwanzig Tage seiner Zeit im Koma erzählt. Ob er aus dem Koma erwacht? Ob er stirbt? Das ist fast schon zweitrangig, denn der Weg zu Day Twenty reizt. Hauptcharaktere sind also Me, Wife, Best Friend und Father. Die Ehefrau und der beste Freund sitzen am Bett des Komatösen und hoffen darauf, dass er wieder erwachen wird. Sie fragen sich allerdings, wie es überhaupt zu diesem Autounfall kommen konnte, wo doch kein anderes Auto weit und breit in Sicht war.

Der Großteil der Geschichte spielt sich im Kopf des Protagonisten ab, denn dort wird seinen Gefühlen Ausdruck verschafft: Reason, Love, Fear, Pride, Passion, Agony und Rage kämpfen einen verzweifelten Kampf darum, herauzufinden, wie es zu diesem Unfall kommen konnte. Wie bei Ayreon üblich, wird jede der insgesamt elf Rollen durch einen bekannten Musiker aus der Metal-Szene besetzt, so übernimmt zum Beispiel Irene Jansen die Rolle der Passion oder Devin Townsend die Rolle des Rage.

Im Lauf dieser knapp drei Wochen im Koma erinnert sich der Protagonist an diverse Stationen in seinem Leben, sein gewalttätiger Vater, seine Schulzeit, die erste Liebe, und all' diese Erinnerungen könnten am Ende dazu führen, dass er mit sich selbst in's Reine kommt.

Ich wollte heute eigentlich nur mal eben fünf Minuten in das Album reinhören, aber daraus ist dann eine Stunde geworden, weil mich Musik und Plot dann doch wieder gefesselt haben. Ich könnte mir vorstellen, das Album über mehrere Wochen verteilt mit Schülern zu behandeln, einmal pro Woche hören wir uns zwei Stücke an und versuchen so nach und nach, die Charakterisierungen der Hauptfiguren zu vervollständigen. Und wer weiß, vielleicht gefällt es ja sogar dem einen oder anderen Schüler, und er hört sich von sich aus noch ein anderes Album an. Den Effekt finde ich toll, habe ich damals zuerst erlebt, als ich mit einer Klasse im Lateinunterricht Caius ist ein Dummkopf gelesen habe und ein paar Schüler das Buch direkt verschlungen haben und sich dann auch noch die anderen beiden Teile der Trilogie zugelegt haben.

Ich habe früher öfters song analysis mit Schülern gemacht, weil es sich angeboten hat: Man lernt, einen vollständigen Einleitungssatz zu schreiben, man beschreibt die Musik und geht dann auf die Inhalte ein. Habe ich lange nicht mehr gemacht, aber wer weiß, wenn ich an meiner Schule bleiben kann, vielleicht mache ich das dann doch mal wieder.

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