Seit wann sind Schüler Individuen??? |
"Nummer Sieben Zwo Null Eins Zwo Acht, vier Fünfen, eine Sechs, Zulassung gefährdet. Der nächste."
Shirley Jackson hat zu Lebzeiten wunderbare Kurzgeschichten geschrieben, die oft subtil versucht haben, die düstere Seite unserer Gesellschaft herauszustreichen (The Lottery ist wohl ihr berühmtestes Werk, lese ich immer wieder gern mit Schülern, die auch heutzutage von dem Ende schockiert sind). Gern hat sie versucht, klarzumachen, dass es so etwas wie "gute Menschen" nicht gibt, da jeder von uns in der Lage ist, "Böses" zu tun. Ihre Kurzgeschichte The Renegade lässt den Leser mit einem Schauer auf dem Rücken spüren, wie gewaltbereit jeder von uns in seinen Anlagen ist - aber um die Geschichte geht es mir heute gar nicht, sondern um My Life With R. H. Macy; genau genommen geht es mir auch nicht um jene Geschichte, sondern um Schulpolitik. Aber wo soll ich anfangen?
Die nur drei A5-Seiten kurze Kurzgeschichte bietet sich an; sie handelt von einer jungen Frau, die einen Job im Kaufhaus Macy's übernimmt und dort nur als 13-3138 geführt wird. In aller Kürze handelt die Geschichte von der Sachlichkeit, der Unpersönlichkeit, mit der die elftausendsiebenhundert Angestellten des Kaufhauses geführt werden. Namen existieren nicht, nur Abteilungen und Nummern. Der Effizienz wegen. Ob man es da überhaupt merken würde, wenn einer fehlt? Und nun kommen wir zurück zum einleitenden Zitat. Das stammt nämlich nicht aus Jacksons Kurzgeschichte, sondern aus einem anderen Kontext, der allerdings mit demselben Problem zu tun hat: Zeugniskonferenzen.
Konferenzen. Manche Schulen können gar nicht genug davon bekommen: Konstituierende Konferenz, pädagogische Konferenz, Zwischenkonferenz, Zeugniskonferenz, Prüfungszulassungskonferenz, Prüfungskonferenz, Schulkonferenz, Lehrerkonferenz. An nicht wenigen Schulen liegt die Zahl der Konferenzen, die man im Jahr besucht, im zweistelligen Bereich. Man mag argumentieren, dass dadurch die schulische Arbeit gefördert wird, der Schulalltag, das schulische Leben. Lasse ich unkommentiert. Habe genug Schulen erlebt. Manche Schulen haben einen festen Konferenztag in der Woche. Jede Woche.
Aber das andere Extrem kann es doch auch nicht sein, oder? Wenn wir auf einer Zeugniskonferenz einen Schüler so abarbeiten wie oben beschrieben, dann verkommen unsere Schüler tatsächlich zu Ziffern, oder meinetwegen noch Namen, aber ohne Gesicht, ohne Persönlichkeit, ohne irgendwas. Sicher hat es einen Vorteil, wenn wir die Leistungen der Schüler auf prüfungszulassungsrelevante Kriterien beziehen: Eine Klasse mit fünfundzwanzig Schülern ist in gut zehn Minuten abgehakt und man ist noch am frühen Nachmittag wieder zuhause.
Und schließlich wird uns viel Nummernhaftiges aus dem Bürokratiergehege vorgegeben, das Ministerium ist immer wieder stolz, wenn es neue Formalitäten auf Schulen bringen kann, denn auf diese Weise rechtfertigen manche Mitarbeiter alleinig die Existenz ihres Postens.
Aber mit Menschlichkeit hat das nicht viel zu tun. Mit individueller Förderung schon gar nicht. Und selbst bei längeren Konferenzen sind gute Schüler oft mit "XY macht keine Probleme" oder "XY glattes Zeugnis" abgehakt. Kein Gesprächsbedarf.
Ich muss zugeben, mir fällt es nicht leicht, mich zu positionieren. Ich hasse Konferenzen, in denen jeder alles dreimal sagen muss, und die sich unnötigerweise ewig in die Länge ziehen. Gleichzeitig ist es jeder Schüler wert, dass wir einmal kurz über ihn sprechen, oder? Genau deswegen haben ja manche Schulen überhaupt erst die sogenannten pädagogischen Konferenzen mitten im Halbjahr eingeführt - um diese Themen aus der Zeugniskonferenz auszulagern.
Aber besteht nicht irgendwie die Gefahr, dass unsere Schüler mehr und mehr zu Posten verkommen? Wahrscheinlich mache ich mir da nur wieder zu viele Gedanken - seitdem ich Nummer 720128 an der Kieler Universität war.
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