Mittwoch, 19. Oktober 2016

Ich muss alles allein schaffen

Die Sonnenbrille schützt mich vor den Blicken der Leute, die vielleicht meine Schwächen sehen könnten.
 
Ich glaube, es könnte mir ganz gut tun, wenn ich dieses Thema einfach mal in den Blog schreibe, einfach mal verschriftlichen, weil es mir im Leben zwar selten, aber immer mal wieder begegnet. Und ich weiß nicht, ob das hier stellvertretend für alle Hochbegabten gelesen werden kann, deswegen schreibe ich es in der "Ich"-Perspektive und nicht als "man" oder "der HB". Und sicherlich werde ich hier zu Verallgemeinerungen neigen, und viele Dinge werden meiner Wahrnehmung entspringen, die nicht immer ganz der Realität entspricht. Aber es geht ja auch darum, wie es sich für mich anfühlt. Und es geht hier auch nicht darum, anzugeben, und meine Freunde wissen das auch.

"Du wirst das schon schaffen, Du hast immer alles irgendwie geschafft."

Diesen Satz habe ich in meinem Leben mit schöner Regelmäßigkeit gehört von meiner lieben Mutter, wenn bei mir schwierige Prüfungen anstanden. Wie Mütter nun mal so sind, wollte sie mir damit die Angst nehmen, dass ich scheitern könnte, und diese Angst hatte (und habe) ich immer, mal mehr, mal weniger stark, manchmal rational, oft irrational. Elterliche Fürsorge, entstanden teils aus Hilflosigkeit ("Was können wir denn sonst tun?"), teils aus der Beobachtung, dass ich ja tatsächlich immer alles irgendwie geschafft habe.

Durch Prüfungen, Klausuren, Referate, all solche Sachen, bin ich in meinem Leben so gut wie nie durchgefallen. Korrigiere: Nie. Ich habe alle Klausuren, alle Zeugnisse und jeglichen Schein im Studium beim ersten Mal bestanden, mal mehr, mal weniger gut. Ich weiß nicht, wie sich das Scheitern anfühlt. Im Referendariat habe ich mich extrem faul verhalten, weil mir das ganze System widerstrebt hat. Trotzdem habe ich mein zweites Staatsexamen erhalten.

Es mag sicherlich für viele Menschen als Vorteil erscheinen, wenn die Intelligenz eines Menschen ihn dazu befähigt, mit geringstem Aufwand all diese Prüfungen zu bestehen. Das ist aber leider nicht zu Ende gedacht. Denn welche Konsequenzen zeitigen diese Umstände?

Ich kenne nicht das Gefühl, zu scheitern. Ich kenne es nicht, deswegen zu weinen, zu schreien, Sachen kaputt zu schmeißen. Ich kenne diese Depression nicht, diese Wut, dass man wochen- und monatelang für einen Schein, eine Klausur gelernt hat, geackert wie ein Wahnsinniger, und trotzdem durchgefallen ist. In der Konsequenz kenne ich nicht das Gefühl, mich trösten zu lassen für Misserfolge. Mich von anderen Menschen wieder aufbauen zu lassen. Wozu auch? Klausur bestanden, mist, nur ne 2,3, das ärgert mich, mein Anspruch war, nur Einsen im Englischstudium zu schaffen.

Und da hätten wir das nächste Problem: Da ich alles irgendwie schaffe, ist mein Anspruch nicht mehr, "den Schein überhaupt zu bekommen". Ich will eine Eins vor dem Komma haben. Mit Ausnahme einer Hausarbeit ist das im Englischstudium auch geglückt, Durchschnittsnote 1,3. Ihr könnt Euch vorstellen, wie übel mir die mündliche Examensprüfung mit 3,3 zugesetzt hat. Eine Woche lang war ich jeden Tag betrunken, weil ich das nicht verarbeiten konnte. Ich habe mich nicht gefreut, dass ich "das Examen bestanden habe". Es war für mich wie der Gnadenschuss. Und die Ansprüche an mich steigen immer weiter: Ich bin es, der die komplette Begabtenförderung unserer Schule optimieren muss, ich allein muss alle HB-Schüler diagnostizieren, ich muss es allen Kollegen, allen Schülern und allen Elternteilen Recht machen. Jegliches Versagen wird nicht toleriert, und damit steigt die Angst vor dem Versagen auch immer weiter. Da beruhigt auch kein "Du hast immer alles irgendwie geschafft", und das betrübt mich ein wenig, denn meine Mutter hat es immer so lieb gemeint.

Und leider betrifft das "Ich muss alles allein schaffen"-Prinzip nicht nur die Bereiche, in denen meine Stärken liegen (z.B. pädagogisches Arbeiten oder Mathematik/Logik etc.). Wann immer sich in meinem Leben ein Problem eröffnet, freut mein Gehirn sich über die Herausforderung (denn es ist doch immer alles so einfach und langweilig) und beschließt, dass ich da ein Potential habe, mich weiterzubilden. Beispiel Auto: Mein Wagen springt nicht mehr an. Oh, woran könnte das wohl liegen? Hmmm, ich analysiere das mal. Wie klingt es, wenn ich den Zündschlüssel drehe? Öl und Kraftstoff genug vorhanden? Okay, muss irgendwas gereinigt werden? Warte mal, ich hab doch extra das zweihundertseitige Bordbuch, das lese ich erstmal, ich kann ja schnell lesen. Zwei Stunden später ist das durchgelesen. Und angenommen, es wäre auf Spanisch: Stört mich nicht, ich hatte doch nen Spanischkurs, also frische ich meine Sprachkenntnisse nochmal fix auf und kläre das dann. Wäre doch gelacht, wenn ich mein Auto nicht reparieren kann. Das zieht sich dann stunden-, vielleicht tagelang. Ich schiebe alle Erledigungen, die ich derweil mit dem Auto machen müsste, auf. Ich muss mir nicht helfen lassen, musste ich noch nie! Und dann kommen die Buba und die Legehenne und schlagen die Hände über dem Kopf zusammen und fragen mich, warum ich nicht einfach beim ADAC anrufe, sowas ist doch in einer halben Stunde geklärt! Und da mache ich dann (oder manchmal: "Kannst Du nicht da anrufen? Mir ist das peinlich"), und das Thema wird schnell und unkompliziert gelöst. Aber schnell und unkompliziert gibt es in meiner Welt nicht.

Weil sich so selten der Bedarf ergeben hat, weiß ich nicht, wie es ist, sich helfen zu lassen. Ich bin mir nicht des Umstandes bewusst, dass es für jedes Problem Spezialisten gibt, die mir helfen können. Den kaputten Kühlschrank repariere ich allein! Wasserdruck ist zu niedrig? Egal, ich brauche ja eh' nicht so viel Wasser, kann also so bleiben. Ich will nicht, dass irgendjemand denkt, ich bräuchte Hilfe. Seit dreiunddreißig Jahren ging das fast immer wie von selbst, das sollte sich jetzt doch wohl nicht ändern.

So, und nun kommt mir nochmal angeschissen mit "Hochbegabt? Das ist ja toll!" und "Wow, dann kannst Du ja alles Mögliche allein erledigen." und "Angeber, nur weil Du noch nie irgendwo durchgefallen bist." und "Na wow, Deine Intelligenz hätte ich auch gern." und "Du hast doch echt nur Glück gehabt, es gibt auch Leute, die dafür hart arbeiten müssen".

Und überlegt nochmal, ob Ihr wirklich mit mir tauschen wollt.

post scriptum: Für meine lieben Freunde und Familie ist das nochmal ein Memento dafür, wie schwer es mir fällt, Hilfe anzunehmen oder überhaupt anzufragen, selbst bei Kleinigkeiten. Überall steht immer "Er hat das alles erstaunlich schnell und selbständig geschafft" - ist ja auch in den dienstlichen Beurteilungen so - und damit habe ich immer wieder den Anspruch im Bewusstsein, dass das auch so bleibt. Die Leute lesen das und dem muss ich ja schließlich gerecht werden.

Aber, liebe Eltern: Wenn es wirklich nötig ist, werde ich mir für jedwede Sache auch Hilfe ranholen, macht Euch keine Sorgen.

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