Mittwoch, 5. Oktober 2016
Hänschen und das Heroin
Disclaimer: "Hänschen" ist kein realer Mensch. Er dient nur zur Veranschaulichung, ähnlich wie bei Kläuschen.
Hänschens Arbeitstag ist zu Ende. Er ist in der Ausbildung, möchte Tischler werden. Wir wissen alle, dass Lehrjahre keine Herrenjahre sind, und momentan ist die Arbeit für Hänschen echt stressig. Er ist froh, wenn er am späten Nachmittag nach Hause kommt und abschalten kann, und so pfeffert er seine Tasche in die Ecke, wirft sich auf die Couch, schaltet die Spielekonsole ein und legt alles für einen Schuss Heroin bereit. Er macht das öfters, weil es ihm hilft, nach der harten Arbeit zu entspannen. Einfach mal runterkommen. Eigentlich jeden Tag.
Also pausiert Hänschen das Videospiel und geht zum Schrank, in dem er das Heroin aufbewahrt. Er weiß, dass es illegal ist. Der Konsum von Heroin ist in Deutschland zwar erlaubt, der unbefugte Umgang, Erwerb und Verkauf dagegen nicht. Die Logik dahinter: Konsum erfüllt den Tatbestand der Selbstschädigung und ist daher nicht strafbar.
Hänschen öffnet den Schrank und ist perplex. Ich hatte da doch noch eine Bubble mit Stoff rumliegen, denkt er bei sich. Er kann das Heroin nicht finden, aber er ist sich sicher, dass da noch genug für einen Rausch, einen Turn, war - mehr nicht. Deswegen hatte er ja gestern extra beim Händler seines Vertrauens im Internet bzw. Darknet Nachschub bestellt. Hänschens Devise ist, naja, man sollte immer ein bisschen da haben, um abzuschalten. Muss ja nicht dauerdicht sein, nein. Ich will ja nicht abhängig werden. Aber ab und an tut es halt gut, gerade wenn der Tag so anstrengend war.
Und heute war tierisch anstrengend, er ist von seinem Meister ordentlich angepfiffen worden, weil er nicht ganz bei der Sache war. Er konnte seine Aufgaben dann zwar noch erledigen, aber es hat ihm die Laune gründlich verhagelt. So ein Scheiß, der Tag ist gelaufen, kann nicht schon morgen sein? Nein, kann es nicht, und irgendwie muss Hänschen die Zeit bis zum Schlafengehen überbrücken - morgen sieht die Welt anders aus.
Heute also braucht er das Heroin. Nicht einfach nur so abschalten. Sondern ihn vor der Selbstzerstörung bewahren. Das wird ihm langsam, aber sicher bewusst, während er die Inhalte des Schrankes von einer Seite zur anderen schiebt. Echt jetzt? Ist da nichts mehr? Ach scheiße, stimmt ja, gestern Abend gings mir so gut, da hab ich noch ein bisschen nachgelegt, noch ein bisschen mehr gespritzt. War ja auch okay, denn heute sollte die Post kommen, mit Nachschub.
Doch ihm wird ein Strich durch die Rechnung gemacht. Der Postbote war zwar da, aber Hänschen war ja auf der Arbeit, und niemand sonst hat sein Päckchen annehmen können. Längsam dräut es ihm... so eine Scheiße, ich hab' kein Heroin mehr im Haus, und vom Postschalter kann ich es erst morgen abholen. Das ist nicht wahr, oder? Ich hab' bestimmt nicht richtig hingeschaut! Und Hänschen durchsucht den Schrank akribisch genau - findet aber nichts. Hatte er nicht irgendwo in der Wohnung noch eine Notfallration? Eine halbe Stunde lang durchsucht Hänschen jede Ecke, jeden Winkel seiner Wohnung. Vielleicht in der Sockenschublade? Unter dem Bett? Im Medikamentenschrank? Und er schaut jeden Ort auch noch ein zweites Mal durch, denn vielleicht hat er beim ersten Mal ja nicht genau genug geschaut.
Während der ganzen Aktion wird Hänschen immer unruhiger, immer fahriger, denn ihm wird immer klarer, dass er sich den Schuss Heroin heute wohl nicht wird setzen können. Nein, das kann nicht sein! Und Hänschen geht los zur Postfiliale, fragt nach, ob die heutige Lieferung schon im Lager angekommen ist. Ob die nette Dame nicht nochmal nachsehen könnte. Und er könnte ja helfen und mitsuchen. In seinem jetzigen Zustand würde er alles tun, um heute noch den Turn zu bekommen. Man nennt dieses Gefühl Craving - ein starkes Verlangen, das alle Handlungen des Tages bestimmt.
Denn Hänschen kann wegen des Cravings kaum noch an was Anderes denken. Er kommt nach Haus, sucht nochmal in der Wohnung, schaut nochmal den Sendungsverlauf online nach und fängt schließlich an zu weinen: Er ist psychisch abhängig.
Es gibt zwei Arten von Abhängigkeit, die körperliche und die seelische, und hier möchte ich ein Bewusstsein für Letztere schaffen. Ich denke, viele Leser (mich eingeschlossen, ja, ich les' meinen eigenen Unfug) sagen sich "Armes Hänschen, ich bin echt froh, dass ich nicht abhängig bin." Zeit, Farbe zu bekennen: Seid Ihr das wirklich nicht? Hänschen ist ein extremes Beispiel fortgeschrittener psychischer Abhängigkeit (der Begriff Sucht ist mittlerweile überholt). Es fängt schon im Kleinen an, und es muss auch nicht Heroin sein.
Braucht Ihr morgens erstmal einen Kaffee, um richtig bei der Sache zu sein?
Trinkt Ihr ein Feierabendbier?
Muss nach der letzten Unterrichtsstunde erstmal eine Zigarette sein?
Dann seht ein, dass Ihr abhängig seid - das tut auch nicht weh. Aber bitte keine Doppelmoral, kein Leugnen á la "Ich könnte jederzeit aufhören!" - so wie Mark Twain, der gesagt haben soll: "Es ist kinderleicht, mit dem Rauchen aufzuhören, ich habe es schon einhundert Mal geschafft."
Sobald ein Konsummuster erkennbar ist, eine Art Regelmäßigkeit, sobald Ihr das Gefühl habt, ohne den Kaffee/Nikotin/Alkohol/Heroin/Beruhigungsmittel fühlt es sich irgendwie komisch an, irgendwie nicht richtig, dann spricht man von einer Abhängigkeit.
Und wir müssen aufhören, Abhängige zu kriminalisieren. Hänschen hat sich das nicht ausgesucht. Das haben wohl nur sehr wenige. Es passiert, es schleicht sich ein, diese Regelmäßigkeit. Und Hänschen dachte, dass er das eigentlich gut im Griff hat, wie oben zu lesen war. Die Realität erkennt Hänschen erst, als sein Heroin einmal nicht da ist.
Abhängige sind nicht automatisch Kriminelle (auch wenn es z.B. Beschaffungskriminalität gibt, die aber oft aus Verzweiflung entsteht - nach dem Weinen kann es sein, dass Hänschen losgeht und in eine Apotheke einbricht, um dort etwas zu bekommen). Es gibt keinen Grund, auf sie herabzuschauen. Und: Man kann durchaus mit einer Abhängigkeit leben - wenn man sich immer wieder das Konzept der Drogenmündigkeit vor Augen hält und es sich finanziell leisten kann. Dazu gehören aber auch regelmäßige Checks vom Arzt, denn psychoaktive Substanzen können gesundheitsschädliche Nebenwirkungen haben.
Hänschen ist und bleibt ein Mensch, genau wie Du und ich, jemand, der Achtung verdient, der vielleicht nach Hilfe sucht, vielleicht aber auch keine Hilfe braucht. Konsum ist gesellschaftliche Realität, Ihr Lieben, sei es nun Nikotin oder THC, was man da raucht. Alles Drogen.
post scriptum: Nein, liebe Eltern, ich nehme kein Heroin und Ihr müsst Euch keine Sorgen machen. Das ist eine Fallstudie, wie sie mir in der Präventionsarbeit immer wieder begegnet ist.
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