Montag, 17. Oktober 2016

Eine Kapsel


Vor einigen Monaten habe ich in unserem Treppenhaus auf dem Fußboden diese Kapsel gefunden, ein bisschen eingedellt, aber ungeöffnet. Kein Blister, keine Medikamentenschachtel in der Nähe zu finden. Diese Kapsel bewahre ich bei mir auf als Anschauungsmaterial - ein wunderbares Stück! Und ich benutze sie, um ein ganz normales Verhalten bei Abhängigkeit zu beschreiben. Vor einiger Zeit habe ich einen Beitrag geschrieben über Hänschen, der psychisch abhängig ist. Ich habe erwähnt, dass es im Bereich des Möglichen liegt, dass Hänschen unter dem Einfluss seines starken Craving (Verlangen) durchaus zur Beschaffungskriminalität greift.

Eine weitere Situation könnte jene sein: Hänschen findet diese Kapsel. Er nimmt sie in die Hand, schüttelt sie; er kennt sich mit Medikamenten aus und erkennt am Klang, dass es sich hierbei um eine Retardkapsel handelt: Sie ist mit kleinen Kügelchen gefüllt, die sich im Körper erst nach und nach auflösen sollen. Mit Pulver gefüllte Kapseln geben selten ein Geräusch beim Schütteln ab.

Hänschen wird aufmerksam: Ob es vielleicht ein retardiertes Schmerzmittel ist? Ein starkes Opiat, wie es auch das Heroin ist, das er normalerweise konsumiert? Im schlimmsten Fall schluckt Hänschen die Kapsel direkt und wartet ab. Hoffentlich tut er das nicht, denn mit Safer Use hat das nicht viel zu tun. Das kann gefährlich sein und sogar tödlich enden - wenn zum Beispiel eine gefährliche Überdosis einer Substanz in der Kapsel enthalten ist.

Im besten Fall geht Hänschen zu einem Drugchecking - er lässt den Inhalt der Kapsel chemisch analysieren, denn zum Glück gibt es bei ihm in der Nähe die Möglichkeit dazu. Drugchecking ist eine der hilfreichsten Unterstützungen in der niederschwelligen Drogenarbeit, befindet sich aber leider in einer rechtlichen Grauzone, da auch illegale Substanzen getestet werden. Deswegen werden Drugchecking-Angebote häufig von der Polizei unterbunden - auf Kosten der Gesundheit der Konsumenten.

Da Hänschen aber in Medikamenten bewandert ist, hat er sich einen Zugang zur Gelben Liste beschafft, einem Medikamentenkompendium in Deutschland. Dort gibt es ein Programm, mit dessen Hilfe er die Kapsel identifizieren lassen kann; er gibt die Farbkombination, Form und Art des Medikaments ein und findet heraus, dass mehrere Hersteller in solchen Kapseln den Wirkstoff Methylphenidat (MPH) vertreiben, sehr bekannt unter dem Markennamen Ritalin. So weiß Hänschen jetzt immerhin mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, was in der Kapsel enthalten ist, weiß auch die genaue Dosis. Und da MPH missbrauchsfähig ist, gönnt er sich das Medikament an diesem Abend. Leider.


Für Safer Use gilt:

Hänschen sollte nichts konsumieren, von dem er nicht zu 100% weiß, was es ist. Lieber sollte er sich einen netten Rausch entgehen lassen, als dass er vielleicht irgendwann in der Notaufnahme wieder aufwacht. 

Falls überhaupt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen