Dienstag, 9. April 2019

Elektrisierend

Eine tolle Tanztruppe!

In gewisser Weise trägt die Sannitanic Schuld daran, dass ich heute ein irres Erlebnis hatte. Sie hat mir vor ein paar Tagen unter dem Beitrag zum neuen Suspiria erklärt, dass Französisch Fachsprache beim Tanzen ist. Ich hatte mich nämlich ein bisschen gewundert, warum in dem Film neben Deutsch und Englisch auch Französisch auftaucht. Irgendwie scheinen die Franzosen es also mit dem Tanzen zu haben, und das hat mir mein heutiger Film bestätigt. Die Sannitanic hat mir indirekt den Denkanstoß gegeben, den Film Climax (2018) von Gaspar Noé anzuschauen.

Der steht schon etwas länger auf meiner "To Do-Liste für Filme", war aber bisher noch nicht bei Amazon prime verfügbar. Ich hatte mir den Film aufgeschrieben, weil ich einen früheren Film von Noé gesehen habe und feststellen durfte, dass das ein echtes Erlebnis war. Mir war Enter the Void (2008) zwar eine Stunde zu lang, aber es ist faszinierend, wie der Regisseur mit Farben, Formen, Neonlicht und Blickwinkeln arbeitet. Das ist ein Regisseur, der sich was traut, und das führt nicht immer nur zu guten Ergebnissen.

Zumindest ist das meine bisherige Erfahrung: Experimentalfilme können hit or miss sein, entweder treffen sie genau meinen Geschmack und ich finde sie toll, oder ich finde sie scheiße. Also mal wieder polarisierend. Weil ich aber das visuelle Design von Enter the Void toll fand, habe ich mich an diesen Experimental-Tanz-Horrorfilm gewagt. Mittlerweile ist er für mich verfügbar gewesen, und ich bin nicht enttäuscht worden. Climax finde ich richtig gut, eben weil er so unkonventionell ist.

Ein Plot existiert nicht. Oder, um genauer zu sein, der Plot dient als Aufhänger für abgefahrene Szenen auf einer Party. Und mir wird gerade bewusst, wenn ich hier etwas über den Inhalt schreibe, wird das extrem flach klingen - weil es extrem flach ist, die Dialoge sind banal bis infantil, die Charaktere... ja. Zum Glück war ich "vorgewarnt" und wusste, dass ich mich auf einen Noé-Film einlassen muss.

Er beginnt mit einer Vogelperspektive von Schnee. Bellen ist zu hören, eine Frau kriecht durch den Schnee und schreit, beim Wälzen im Schnee hinterlässt sie Blutspuren. Die Kamera wabert fort, zeigt uns einen Baum von oben und dann wird eine Texttafel eingeblendet - "Der Film, den sie soeben sahen, ...", gefolgt von den End-Credits. Großartig, wenn auch nicht originell, es scheint in Mode zu sein, einen Film mit der Schlussszene beginnen zu lassen. Und dann Bildwechsel, wir sehen einen Fernseher, auf dem Vorstellungsgespräche laufen.

Diese Fernseher-Szene fand ich toll, weil links neben dem Gerät Bücher aufgestapelt sind, und rechts daneben VHS-Kassetten. Unter anderem der Film Suspiria und Luis Bunuels Un Chien Andalou. Wer Filme liebt, kennt den andalusischen Hund natürlich und versteht das ganz als eine nette Anspielung für Filmliebhaber - genau wie die Bücher auf der linken Seite, von denen eines den Titel Fritz Lang trägt. Langs Metropolis (1927) war einer der ersten Science-Fiction-Filme überhaupt. Man merkt, dass Gaspar Noé das Filmemachen liebt.

Es stellen sich junge Tänzer vor, und wir erfahren, dass es um eine Choreographie geht, die mit einer Tournee in den USA verbunden ist (der Film spielt in Paris). Die Tänzer sind "echte" Tänzer, keine Schauspieler, und das lässt das Ganze etwas authentischer wirken. Und nach diesen kurzen Gesprächen beginnt die Generalprobe, die Kamera wechselt in eine Lagerhalle und wir bekommen eine "echte" Tanzszene zu sehen.

Wenn man bei Mainstream-Filmen hinschaut, bemerkt man, das Tanzszenen dort eigentlich immer zusammengeschnitten sind - damit keine Fehler auftauchen, oder auch aus dramatischen Beweggründen: ein Closeup tanzender Schuhe bringt etwas mehr Schwung in die Sache. Noé macht es anders, er zeigt die komplette Choreographie in einem ungebrochenen long take. Keine Schnitte, sondern alles in Echtzeit, und die Tanzszene war für mich so elektrisierend, dass mir in dem Moment klar war, dass ich sie mir nach dem Film noch einmal würde anschauen wollen.

Das sind bemerkenswerte Tänzer, die in einem Mordstempo mit ihren Körpern alles Mögliche anstellen können. Unglaublich viel zu sehen, wow, und bei etwa fünfzehn Minuten Minuten ab Start des Films ist die Probe dann zu Ende. Verdientermaßen nutzen die etwa zwanzig Tänzer die Gelegenheit, um das zu feiern. Was mir besonders gut gefallen hat: Die Tanztruppe ist divers, multikulti, es sind Schwule dabei und auch Lesben, klasse, das nenne ich Integration!

Irgendwann nach etwa fünfundvierzig Minuten werden die opening credits eingeblendet. Typisch Noé, und das ist hier auch ganz sinnvoll, denn ab diesem Zeitpunkt wird das ausgelassene Feiern der Tänzer etwas unbequemer - sie fühlen sich nicht mehr so gut und bekommen den Verdacht, dass ihnen jemand etwas in die Bowle gemischt hat. So ist es auch, und die zweite Hälfte des Films besteht aus dem graduellen Abstieg in einen Horrortrip, der sich gewaschen hat. Noé nutzt hierbei die subjektive Kamera, indem wir wie einer der Partygäste durch die Gänge des Gebäudes laufen, die letzten Szenen sind dann überkopf gefilmt.

Was ich bemerkenswert finde: Der Horrortrip ist ein einziger long take, keine Schnitte, keine versteckten Schnitte wie bei Birdman, sondern zweiundvierzig Minuten Abstieg in den Wahnsinn, ungekürzt. Keine Sorge, hier wird nicht herumgesplattert. In dieser Phase können wir in besonderem Maße genießen, wie Noé Gebrauch macht von farbiger Beleuchtung, in rot, grün und blau, das weckt Erinnerungen an Argentos Suspiria (1977).

Ich muss Schluss machen. Mein Fazit? Climax ist ein wunderbarer Film, wenn man sich darauf einlassen kann. Die Tanzszenen sind beeindruckend, und die Kameraarbeit ist aufregend. Es ist kein Film im klassischen Sinne, sondern eher ein Erlebnis - deswegen auch unedingt den Surround-Sound genießen! Ich werde ihn mir nachher wohl noch einmal mit der Original-Tonspur anschauen.

Sex, Drugs and Violence. Das kann schiefgehen (wie bei Nicolas Winding Refns Only God Forgives) oder funktionieren. Hier klappt es.

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