Samstag, 27. April 2019

Seiner Zeit voraus

Zuviel Glotze?

"Science Fiction-Filme sind ihrer Zeit weit voraus", könnte man sagen und hat damit Recht. Ist ja auch logisch, sie zeigen uns Situationen und Dinge, die es (noch) nicht gibt. Allerdings gibt es im Englischen ein schönes Attribut für Filme, die tatsächlich die Zukunft (bzw. einige Konzepte) abbilden: prescient - die Altphilologen wissen natürlich, dass das etwas mit "vorausahnen, vorherwissen" zu tun hat.

Einer dieser Filme ist Videodrome (1983). Er war damals sehr, sehr seltsam - und ist es immer noch - aber hat einige Entwicklungen des digitalen Zeitalters vorausgeahnt. Da kam mir bei'm Ansehen doch gleich die Idee, eine Unterrichtseinheit dazu zu entwerfen, denn ich werde immer wieder mit dem Themenkorridor Science & Technology in den Abschlussprüfungen konfrontiert werden. Und der Film bietet reichlich Diskussionspotential, stellt viele Fragen, über die man sich mit seinem Sitznachbarn nach dem Film unterhalten kann.

Dann wird mir allerdings bewusst, dass der Film damals nicht ganz ohne Grund in Deutschland auf dem Index gelandet ist (aber seit zweitausendachtzehn ab sechzehn freigegeben). Ein Name: David Cronenberg. Der Mann, der Jeff Goldblums Verwandlung in eine Fliege verfilmt hat und für explodierende Köpfe berüchtigt wurde. In Videodrome taucht davon nicht allzuviel auf, eigentlich gibt es nur eine sehr explizite Szene am Ende des Films. Meiner Meinung nach sind es aber die Ideen des Films, die ihn ungeeignet für Jugendliche machen, denen noch ein bisschen Lebenserfahrung fehlt, um den Plot dahinter zu verstehen.

Ganz kurz nur die Handlung: Max Renn sucht nach Videos für seinen Sender, die Zuschauer anlocken. Er weiß, dass Sex und Gewalt immer gehen (hat sich bis heute nicht geändert), und mithilfe eines Mitarbeiters gelingt es ihm, einen speziellen Sender anzuzapfen: Dort werden Snuff-Videos ausgestrahlt (das sind Filme, in denen Menschen gefoltert und getötet werden, meist ohne Handlung, möglichst real), und Max zeigt sich zusammen mit Radio DJane Nikki (Blondies Debbie Harry) von diesen Filmen fasziniert; so etwas müsste doch sicherlich die Zuschauernische anlocken, die es etwas härter braucht. Der Name des Senders - Videodrome.

Eigentlich läuft alles gut, doch Max beginnt nach und nach zu halluzinieren, selbst Gewalt auszuüben und Teil der Videodrome-Show zu sein, und als Nikki dann zu einem Vorstellungsgespräch mit den Machern von Videodrome reist, verschwimmt die Grenze zwischen Realität und Illusion radikal.

Ach herrje. Wenn ich das so lese, fällt mir auf, wie trashig das klingt. Ganz klar: Wer diesen Film sehen möchte, und das volle Diskussionspotential erleben möchte, muss sich mit einem offenen Geist auf die ungewöhnlichen Bilder einlassen und beim Zuschauen glauben, dass ein Projekt wie Videodrome durchaus möglich wäre. Denn dann öffnen sich ganz neue Denkpforten.

Spoilerwarnung!

Videodrome wurde ursprünglich konzipiert, um den Menschen nach dem Tod eine Möglichkeit zu geben, weiterzuleben, indem sie Teil der Sendung werden. Dann haben aber zwei der Entwickler das Potential entdeckt, mit Videodrome die Gedanken der Menschen zu kontrollieren - das macht Videodrome schließlich zu einem Politikum.

Entwarnung!

Videodrome hat die Entwicklungen der transhumanistischen Technologien vorausgeahnt: Wie können wir über unseren fleischlichen Körper hinaus weiterexistieren? Heutzutage nennt man so etwas nicht mehr Videodrome, sondern Mind Uploading. Das ist natürlich nur eine Theorie - dass man sein Bewusstsein in eine Art virtuelle Realität hochladen kann, um den Tod zu überdauern - aber es gibt viele Menschen, die genau in diese Richtung forschen, und es gibt viele Filme, die sich damit beschäftigen - Source Code, Transcendence, die Matrix-Reihe...

Cronenberg hat das alles ein wenig vorhergeahnt; genau das macht seinen Film zu einem Faszinosum. Andere Fragen, die der Film anspricht, sind Gedankenkontrolle und die Sehnsucht des Menschen nach Gewalt und Sex sowie die Einflussnahme auf Menschen durch das Fernsehen. Wenn man es schafft, sich dem Film so weit zu öffnen, dass der Gedanke nicht mehr schwachsinnig ist, dass jemand eine Videokassette in Deinen Bauch schiebt, um Dich unter Kontrolle zu bringen, dann hat man sehr surreale neunzig Minuten Unterhaltung. Der Kritikerkonsens auf rottentomatoes.com besagt:

Visually audacious, disorienting and just plain weird, Videodrome's musings on technology, entertainment and politics still feel fresh today.

Irgendwas muss der Film ja an sich haben, sonst würde ich ihn mir nicht als physical release zuschicken lassen. Aber schulischer Gebrauch? Ich denke nicht.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen