Freitag, 7. September 2018

Mirror, Mirror

Ich verwende dieses Bild aus Silent Hill 2 immer wieder gern, auch wegen der vielen Assoziationen, die in meinem Kopf dazu bestehen.

Ich erlebe zur Zeit eine Situation, die ich so noch nicht kenne: Ich unterrichte einen Filmliebhaber. Kombiniert mit dem Umstand, dass meine Klientel mittlerweile junge Erwachsene sind, sorgt das für eine Menge Spaß an der Arbeit. Es ist immer wieder nett, vor oder nach der Stunde ein kurzes "Haben sie den gesehen?" auszutauschen. Und es ist toll, das mit einem Schüler zu machen, der für seine Altersstufe eine recht breite Filmkenntnis hat. Ich finde das wirklich cool!

Auf der anderen Seite muss ich ununterbrochen auf der Hut sein, dass ich diesen Schüler in keiner Weise übervorteile. Nicht häufiger drannehmen als Andere, nicht mehr durchgehen lassen als Anderen, und schon gar keine besseren Noten bei gleicher Leistung. Gehört zur Professionalität, aber wem erzähle ich das, viele von Euch, die Ihr das lest, sind selbst Lehrer.

Man fühlt sich wie auf einer Wellenlänge - ich glaube, das würde mir auch so gehen, wenn zwei meiner Schüler ein Referat über The T.A.L.O.S.-Principle halten wollten, weil sie davon begeistert sind. Nicht wahr, die große Buba? Und dann wirkt es ein bisschen creepy, wenn man folgende Situation erlebt:

Die jungen Erwachsenen müssen lernen, ihre Qualitäten, ihre Stärken und Schwächen besser einzuschätzen. Das findet sich auch in den Englischbüchern der kaufmännischen Abteilung wieder. Und passenderweise findet sich in der aktuellen Ausgabe der azubiYo ein Test zur Selbsteinschätzung. Zwölf gut ausformulierte Statements, die man abstufend von trifft voll zu bis trifft gar nicht zu bewerten soll. Dabei ist das noch gar nicht der interessante Teil des Tests; man faltet den Zettel nun, so dass die Kreuzchen auf der Rückseite und damit nicht mehr sichtbar sind. Dann gibt man den Fragebogen einem anderen Menschen (der mich idealerweise schon lange kennt), um eine Fremdeinschätzung zu bekommen.

Wir kennen das als klassisches Handwerkzeug der Pädagogik: Den Schülern möglichst anschaulich, möglichst greifbar zu machen, dass es eine Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung geben kann. Irgendwann sollte man das im Leben einmal realisieren, denke ich mir - bei mir ist das erst relativ spät geschehen.

Whatever, natürlich bearbeite auch ich den Bogen, setze meine Kreuzchen, falte die Seite um und frage, wer von den Damen und Herren mich mal einschätzen möchte. Und natürlich meldet sich mein Filmliebhaber. Alles in Ordnung, er gibt seine Einschätzung ab, ich nehme den Zettel wieder an mich, klappe die eigene Spalte wieder zurück und sehe den direkten Vergleich zu allen zwölf Aussagen. ... ...und dann ist es wirklich ein bisschen creepy, wenn von zwölf Aussagen neun komplett übereinstimmen, nur zweimal gab es eine leichte und einmal eine deutliche Abweichung.

Das ist gruselig. Dieser Filmfreak da, der mich seit drei Wochen kennt, will mich so gut einschätzen können? Never! Und dann denke ich mir... okay, ihr seid auf einer Wellenlänge, mögt beide Filme, könnt euch auf Augenhöhe darüber unterhalten - das verlockt dazu, von sich selbst auf den Anderen zu schließen, wenn man ihn einschätzen soll. Ich denke, genau das ist hier geschehen.

Und warum dieser Artikel? Liebe Kollegen, ich verwette meine kaputte Badlampe darauf, dass Ihr irgendwann in Eurer Schulzeit auch eine solche Situation erlebt habt. Ein unheimliches Abbild von Euch in einem Eurer Schüler, und zwar nicht auf Krampf hineinprojiziert, sondern womöglich tatsächlich vorhanden. Velut in speculum inspicere, wie ein oller Römer einst sagte (wenngleich in anderem Kontext, aber es ist ja Mode geworden, lateinische Zitate anzubringen, auch wenn sie überhaupt nicht passen, denn das klingt gebildet).

Läuft alles drauf hinaus, dass ich mich bei meinen Schülern wirklich richtig wohl fühle. Das ist toll, das hatte ich in dieser Form lange nicht mehr.

post scriptum: Natürlich darf hier nicht ein kurzer Kommentar zu meinem heutigen Film fehlen, gerade wenn ich bedenke, dass mein Filmfreak diesen Text vermutlich in genau diesem Moment liest. Ridley Scott war heute dran, und zwar mit "Alien: Covenant" (2017). Ich habe mich in den letzten Wochen tatsächlich in die guten Filme des "Alien"-Universums ziehen lassen, und mir hat der jüngste Film ziemlich gut gefallen. Ich kann der Rezension von Matt Zoller Seitz vollkommen zustimmen - der ganze body horror ist mir relativ egal, aber da sind großartige schauspielerische Leistungen von Michael Fassbender - einem Iren, der so gut Deutsch spricht, dass man beim Kennenlernen nie drauf käme, dass er aus Irland stammt. Und da sind philosophische Komponenten eingeflossen, die aus Scotts "Prometheus" (2012) fortgeführt wurden, und schon hat man ein thematisches Crossover zwischen "Alien" und "Blade Runner". Es erschließt sich ein Bild in meinem Kopf von einem Ridley Scott, der in seinen Filmen gern der Frage nachgeht, was uns wirklich "menschlich" macht. War für mich heute ein Genuss, auch wenn viele da anderer Auffassung sind - zweiundsechzig Prozent positive Rezensionen auf "rottentomatoes.com" sprechen für sich.

Und: ein schwules Ehepaar in den Fünfzigern wird dort als Selbstverständlichkeit abgebildet, der Moment ist mir in besonders guter Erinnerung geblieben. Und der Kuss, den David Walter gibt (zwei andere Männer, und aus einem ganz anderen Grund), knistert förmlich. Endlich wird das langsam als Teil der Realität dargestellt.

Feelin' good? Check!

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