Samstag, 8. September 2018

Der gelbe Punkt

Unzählige Erinnerungen

Heute stehe ich vor meiner Fotowand und schwelge ein paar Minuten in Erinnerungen, und ich sehe ein Foto von der großen Buba und mir in der Cafeteria der Kieler Uni. Buba, Hilarius und Essen - das ging immer ziemlich gut. Und das wirkt alles so selbstverständlich zwischen uns - aber das war jahrelange Arbeit. Zu erkennen, zu lernen, wie der Andere ist. Das war nicht immer so, und ich erinnere mich noch sehr gut an einen Moment vor einigen Jahren, eine Situation, die mir vor DGB verdammt unangenehm war.

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Es gibt so Momente... unglaublich peinliche Momente, in denen ich mir wünsche, die Erde möge sich auftun, oder ich könnte die letzte Stunde ungeschehen machen. Momente wie gestern.

Die große Buba kommt zu Besuch. Ich freue mich riesig, dass sie da ist, denn ich habe sie zwei Wochen nicht gesehen. Und ich habe sie heute auch noch versetzt, weil ich nicht deutlich gemacht habe, dass Meditationstag ist, und dass ich deswegen erst ab zweiundzwanzig Uhr bereit stehe - oder noch später. Ist eben manchmal so, wenn ich intensive Gedanken verarbeiten muss, und der gestrige mit ihm mag zwar kurz sein, aber er beschäftigt mich sehr. Doch die große Buba ist noch fit, und sie kommt auch noch am späten Abend rum, und das ist toll, denn wir wollen noch ein paar Pogopuschel plattmachen, mit Pomsa und Konsorten in Secret of Mana.

Sie kommt herein, ich freue mich, wir springen auf die Couch und unterhalten uns über Verhaltensweisen, über Kartenhäuser, über fat shaming und darüber, wie in jedem von uns Menschen das Potential zur Intoleranz steckt. An Meditationstagen bin ich froh, wenn die große Buba erzählt, dann kann ich zuhören; ich selbst rede nicht so viel. So also auch heute. DGB erzählt von einem ehemaligen Arbeitskollegen, erzählt, wie sie etwas ernüchtert ist über einen Kommentar, den er bei Facebook unter einem... ...oh warte... 

...da ist er wieder... der gelbe Punkt. Ich sitze still, schaue DGB an und höre ihr zu, nicke ein paar Mal bestätigend, aber meine Gedanken kreisen nur noch um diesen gelben Punkt, den ich in meinem Blickfeld habe. Ich kenne diesen Punkt, er taucht auf, wenn ich Kreislaufprobleme habe. Er verschwimmt etwas, wird immer runder, mit einem Loch in der Mitte, so dass er fast ein Ring ist. Als würde das Weiße in meinem Auge gelblich leuchten, matt schimmern, und dahinter kann ich immer noch DGB sehen, die weiter erzählt. 

Zum Glück erzählt sie. Ich versuche, tief durchzuatmen. Wann habe ich zuletzt gegessen? Vor einer halben Stunde. Ja okay, aber nur eine halbe Portion. Und davor? Naja, gestern Abend hatte ich zwei Scheiben Brot. Und davor? Naja, vorgestern Abend... okay okay, ich glaube, ich habe wieder einmal viel zu viel gedacht und das Essen vergessen, und jetzt rächt sich der Körper, ausgerechnet in diesem Moment, wo DGB vor mir sitzt und ich mich so auf das Rumalbern gefreut hatte, und ich hatte sie sowieso schon versetzt, weil das alles später geworden ist, und jetzt noch zusammenklappen? Geht gar nicht! Also, tapfer sein.

Langsam wird der gelbe Punkt immer größer, DGB erzählt noch weiter, ich versuche ihr kurze Fragen als Prompter zu geben, damit sie weiterredet, Hauptsache, ich muss jetzt nicht authentisch und sinnvoll reagieren. Das Glitzern in meinem Blickfeld wabert immer weiter und ich gehe zum Kühlschrank, um mir ein Glas Cola zu holen. Das dürfte DGB stutzig machen: Ich hole mir NIE etwas zu trinken, wenn sie da ist, weil ich mit den Gedanken immer total bei ihr bin und nicht an solche Nebensächlichkeiten denke. 

Ich setze mich wieder, trinke das halbe Glas in einem Zug aus, nicke. Hoffe, dass der Zucker etwas bringt, während der gelbe Punkt soweit verschwommen ist, dass er fast einen Ring mit einem Loch in der Mitte bildet. Okay, halt noch etwas durch, vielleicht  geht das Leuchten gleich wieder weg, immerhin ist das Super Nintendo bereits an und wir müssen doch den Feuerpalast durchqueren und den Manasamen versiegeln, geht bestimmt gleich wieder weg und plötzlich...

...plötzlich hört DGB auf zu reden. Oh Mist, was war jetzt? Hatte sie eine Frage gestellt? Oder war sie fertig? Mir wird bewusst, dass ich kaum ein Wort von dem verstanden habe, was sie in den letzten drei Minuten gesagt hat. Ich sage nur "Mmmhhh, mmhh.." und nicke und lächele, und die große Buba schüttelt verständnislos ob der Intoleranz der Menschen den Kopf, und jetzt ist mein ganzes Blickfeld von diesem gelben, transparenten Punkt bedeckt und ich halte es nicht länger aus, nützt alles nichts, Erde tu dich auf, verschling mich, oder kann das bitte alles ein Traum sein...

"Ehhhmmm... DGB, ich glaube, mir geht es gerade nicht so gut. Ich glaube, ich habe zu wenig gegessen." - "Aber du hast doch gerade gekocht?" - "Ja, aber auch wieder nur die Hälfte gegessen, und davor irgendwie auch kaum was... weißt du, dieser Abend gestern, das Thema beschäftigt mich halt doch irgendwie, und ich stecke momentan vollkommen in Gedanken fest."

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Und hier brechen wir mal ab. Diese Momente kenne ich, und ich kenne sie seit Jahrzehnten. Der Kreislauf trudelt, der gelbe Punkt wabert vor meinen Augen, erst klein, dann größer, dann ein Ring und dann verschwindet er wieder, und währenddessen kann es kribbeln, und ich bekomme nicht so viel mit um mich herum. Und da kann ich noch so viele Schilder in meiner Wohnung aufhängen, die mich an's Essen erinnern sollen. Und da kann ich noch so viele Gläser Wasser überall herumstehen lassen: Wenn mich etwas gedanklich beschäftigt, dann stecke ich da drin, und dann ist alles Andere sekundär. Auch meine Gesundheit, wie es scheint.

Und dann sage mir nochmal einer, Hochbegabung sei "eine Gnade".

post scriptum: Erstmal an meine Eltern - es geht mir gut! Ihr kennt diese Phasen von mir, in denen ich nicht an das Essen denke, und Ihr wisst, dass ich mich danach wieder auf die Bahn bringe. Es ist alles in Ordnung, und ich habe gelernt, damit zu leben. Dann an die große Buba - so ein Scheiß, da haben wir damals die zweite Bhega-Bhuttäh plattgemacht und konnten nicht einmal die Mission abschließen. Und das ist schonmal vorgekommen, dass wir abbrechen mussten, und es ist mir heute immer noch so peinlich wie damals. Tut mir leid. Ich komme nicht gegen diesen Kopf an. Zum Glück weiß sie das, und ist immer noch da. 

paulo post PS: Heute habe ich einen Film aus Südkorea gesehen, "The Wailing" (Gok-seong, 2016), weil neunundneunzig Prozent der siebzig Kritiker auf rottentomatoes.com den Film weiterempfohlen haben. Das war eine gute Entscheidung; es ist ungewöhnlich, dass sich ein Horrorfilm über zweieinhalb Stunden erstreckt, aber die visuelle Erzählweise des Films rechtfertigt das vollkommen. War ein tolles Erlebnis (mit koreanischem Originalton mit deutschen Untertiteln); dass meine Flamme der Begeisterung nach dem Film recht schnell heruntergekühlt ist, hat Gründe, die ich verschweige, um nicht zu spoilern: Je weniger man über den Film weiß, umso besser. Und es bleibt: Jeder Horrorfan sollte diesen Film zumindest einmal gesehen haben, ein visueller und akustischer Genuss.

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