Donnerstag, 26. Januar 2017
Unterrichtsversuch, pt.2: Das Gutachten
Gestern habe ich hier meine Hausarbeit aus dem Referendariat gepostet. Der Vollständigkeit halber soll nun das Gutachten von Herrn Kruse, meinem damaligen Studienleiter, folgen. Das macht vielleicht dem einen oder anderen Referendar etwas Mut, der sich nicht sicher ist, ob er einen waghalsigen Unterrichtsversuch unternehmen soll.
Dazu muss gesagt sein, dass Herr Kruse ein großartiger Studienleiter war, der mit einem etwas anderen als dem üblichen IQSH-Auge auf die auszubildenden Lehrkräfte und deren Unterrricht geschaut hat. Er war eine der vier Personen, die mich in meinem eigenen Ref damals dazu gebracht haben, bis zum Ende durchzuhalten und nicht einfach alles hinzuschmeißen. Warum spreche ich in der Vergangenheit? Nicht nur, weil meine eigene Ausbildung zum Glück abgeschlossen ist (auch wenn einige meiner Kollegen sich das nicht vorstellen können - wirke ich doch auf sie wie ein Nulltsemester ohne jegliche pädagogische Erfahrung und Ahnung), sondern auch, weil Herr Kruse nun einen anderen Posten angetreten hat: Er ist Schulleiter der Friedrich-Paulsen-Schule in Niebüll - ein Karrieresprung, von dem die ganze Schule profitiert haben wird, denn da sitzt jemand mit einem Auge für den Menschen.
Nun denn, was hatte also jener Herr Kruse zu diesem vollkommen versemmelten Unterrichtsversuch zu sagen? Voll für die Tonne konnte die ganze Nummer dann ja doch nicht gewesen sein, sonst würde Cai Christophel, IQSH-Leiter für die Schulart Gymnasium, nicht am Examenstag angefragt haben, ob man die Hausarbeit im IQSH ausstellen dürfe. Daran hatte ich allerdings kein Interesse; jener Laden für "Qualitätssicherung" an schleswig-holsteiner Schulen hat so intensiv an mir herumzudoktern versucht, um aus mir einen "guten Lehrer" zu machen, dass ich keine Lust darauf hatte, dass die Hausarbeit womöglich noch als Ergebnis der "hervorragenden" Ausbildung des IQSH dargestellt würde. Nein danke. Stattdessen möchte ich sie lieber den Lesern dieses Blogs zur Verfügung stellen, zusammen mit dem nun folgenden Gutachten.
"Dr Hilarius leitet seinen Unterrichtsversuch aus der pädagogischen Praxis, genauer gesagt aus seinen Hospitationen ab. Er beobachtet aufmerksam die lehrerzentrierten Stunden eines Kollegen seiner Schule und nimmt zwei Defizite wahr, die er auf die zu hohe Lehrersteuerung zurückführt: Der Kollege arbeite kaum themenorientiert und übergebe seinen Schülern in den Stunden keine Verantwortung für den eigenen Lernprozess. Bezüglich der Themenorientierung ist festzuhalten, dass diese auch in lehrerzentriertem Unterricht erreicht werden kann und muss. Da dieser Aspekt für die weitere Arbeit aber keine Rolle spielt, wirkt sich die fälschlich postulierte kausale Verknüpfung von fehlender Sinnorientierung und Lehrerzentrierung nicht weiter negativ aus. Stattdessen macht Dr Hilarius den Aspekt der Verantwortung für den Lernprozess zu seinem Thema und das gelingt ihm sehr überzeugend.
Es wird argumentiert, dass Schüler der neunten Klasse (unter G-8 Bedingungen) vor dem Eintritt in die Oberstufe auf die stetig wachsende Übernahme der Verantwortung für ihren Lernprozess vorzubereiten seien. Dr Hilarius sieht darin einen wichtigen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung der Schüler und möchte ermöglichen, dass die Schüler in stärkerem Maße ihr eigenes "Potential selbst entdecken können" (S. 3). Diesen Effekt möchte er durch die radikalste Form von materialgestütztem offenen Unterricht erzielen, der Freiarbeit. Auch der Lerngegenstand, die Einführung in den Konjunktiv im Hauptsatz, ist radikal: Bisher ist es Konsens in der fachdidaktischen Literatur, dass sich die Einfürung neuer Grammatik nicht für offenen Unterricht eignet. Diese Setzung möchte der junge Kollege hinterfragen und tut dies mit einem Grammatikum, das an Komplexität kaum zu überbieten ist. Die Übergabe der Verantwortung für den Lernprozess wird gewissenmaßen einem "Härtetest" unterzogen. Am Ende wird zu evaluieren sein, ob das Vorgehen lernwirksamer als in lehrerzentriertem Unterricht ist (L 1). Außerdem will der Verfasser prüfen, ob die Schüler die Herausforderung an die eigene Selbstkompetenz gebührend nutzen.
Dr Hilarius stützt seine Arbeit auf sehr wenig Sekundärliteratur. Das wirkt sich aus zwei Gründen aber nicht negativ auf die Qualität der Darstellung aus. Einmal ist das Thema aufgrund seiner Radikalität sehr innovativ und bietet somit wenig adäquate fachdidaktische Literatur. Dass Dr Hilarius nicht auf allgemeine pädagogische Literatur oder fachdidaktische Arbeit verwandter Fächer zur vertieften Problematisierung seines Vorgehens zurückgreift, ist unwesentlich, weil sich der fachdidaktisch-pädagogische Blick des jungen Kollegen im Verlauf der Arbeit als außerordentlich sensibel und scharf erweist.
Fraglich bleibt bis in die Reflektion hinein die Wahl der Freiarbeit. Während dem Gutachter einleuchtet, dass dem Thema der Arbeit die Radikalität der Freiarbeit zuträglich ist, so ist doch zu bezweifeln, dass man bei einer Grammatikeinführung die Festlegung eines Pflichtpensums "vermeiden" (S. 10) kann. Leider erkennt Dr Hilarius diese Fehleinschätzung auch im Resümee nicht (vgl. S. 16), weil der Wunsch, größtmögliche Freiheit einzuräumen, den Blick für diesen inneren Widerspruch verstellt. Die ursprüngliche Idee der Planarbeit wäre sicher das passendere Instrument gewesen.
Sehr erfreulich hingegen ist der fachkompetente Umgang mit dem Thema Konjunktiv im Hauptsatz. Dr Hilarius erkennt genau, worauf es bei dem Thema ankommt, und kann in der Reflexion zeigen, dass er seine Fehleinschätzungen bezüglich der Anforderungen nach der Durchführung klar erkennt und geeignete Wege zur Optimierung findet.
Die Konzeption der Reihe ist klug durchdacht und genügt hohen Ansprüchen. Sie ist auch gut auf die Lerngruppe abgestimmt und geeignet, am Ende der Reihe den Unterrichtsversuch angemessen zu evaluieren. Die gesamte Arbeit ist von großer gedanklicher Klarheit geprägt. Dr Hilarius hat seine Fragestellung stets vor Augen und gibt wichtige Eindrücke aus den Freiarbeitsstunden wieder. Die Darstellung der Höhen und Tiefen des Versuchs wirkt uneingeschränkt realistisch. Die Evaluationsinstrumente greifen eindrucksvoll ineinander und werden in ihrer Aussagekraft nicht überstrapaziert. Die Leitfragen werden überzeugend und differenziert beantwortet.
Der Höhepunkt der Arbeit ist zweifelsohne das Resümee. Besonders der vortrefflich-schonungslose Blick für die Schwächen der Arbeit ist beeindruckend. Für jedes Defizit kann der Verfasser auch überzeugend aufzeigen, wie die Reihe für einen zweiten Durchgang verändert werden müsste. Dr Hilarius exemplifiziert somit Unterrichtsentwicklung auf sehr hohem Niveau.
Fazit
Dr Hilarius traut sich zu, einen radikalen Versuch zu unternehmen. Die Neigung zur reformpädagogischen Arbeit nach Montessori und das Ringen um selbstkompetente Schüler sind die Triebfedern des Ansatzes, der reiche fachdidaktische und fachmethodische Früchte trägt. Besonders beeindruckend ist, dass die Begeisterung für die Arbeit in offenen Formen nicht den Blick für die Erfordernisse des Faches verstellt. Die Arbeit ist somit trotz einiger Monita noch sehr gut.
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Danke, Herr Kruse!
post scriptum: Ich habe mittlerweile gemerkt, dass ich in lehrerzentriertem Unterricht viel besser arbeiten kann - wenn die Schüler das mitmachen. In der Regel klappt das.
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