Samstag, 10. November 2018
Ein ganz besonderes Kind
Meinen Eltern könnte dieser Beitrag aus der Seele gesprochen sein, aber vielleicht finden sich auch andere Leser hier irgendwo wieder, sei es nun als betroffenes Kind oder betroffener Elternteil.
Mit nicht einmal zwei Jahren kaut er seinen Eltern ein Ohr ab, ist in der Lage, ganze Sätze zu bilden und kommt kaum zur Ruhe. Mit vier Jahren liest er aus der Tageszeitung vor. Mit sechs Jahren kann man ihn glücklich machen, indem man ihn vor eine Waschmaschine setzt, und er kann dort ununterbrochen fasziniert zuschauen. Sein Interesse für Sprache ist so hoch, dass er versucht, aus jedem ungewöhnlichen visuellen Input ein Wort zu kreieren, und wenn es nur die Architektur einer Autobahnbrücke ist. Sein Klassenlehrer ruft an, um mitzuteilen, dass er seine Hausaufgaben nie macht. Gleichzeitig stört er den Unterricht, ist laut und sein Wunsch, Mitschülern zu helfen, wird als ungewollte Belehrung aufgefasst.
Es geht in diesem Artikel gar nicht um ihn. Wir brauchen ihn quasi als Macguffin, als Auslöser für die Reaktionen seiner Eltern. Die sind nämlich oftmals hilflos. Sie würden ihm gern helfen, oder auch dem Klassenlehrer. Sie haben bereits Zwillinge ein paar Jahre vor ihm großgezogen, sie wissen, wie man sich um ein Kind kümmert und wie es ist, es an die Hand zu nehmen und ihm die Welt zu zeigen. Was aber soll man tun, wenn das Kind schon von sich aus alles erforscht? Wie kann man ihn zu den Hausaufgaben zwingen, wenn sich doch alle einig sind, dass er sie gar nicht braucht? Warum funktionieren die normalen Verhaltensweisen bei ihm nicht? Warum ist er anders als die anderen Kinder? Und im schlimmsten Fall: "Was haben wir falsch gemacht?"
Das muss kein hochbegabtes Kind sein. Es kann auch geistig oder körperlich behindert auf die Welt gekommen sein, oder ein Autist, es kann taub sein oder blind, in irgendeiner Weise anders als alle anderen. Und was ich nun schreibe, ist bloßes Theoretisieren, denn ich bin kein Vater. Was ich aber beobachtet habe, ist, dass Eltern ihr Kind bloß wegen seiner Andersartigkeit nicht weniger lieb haben. Es kann nur manchmal eine ganze Weile dauern, das zu akzeptieren. Und in dieser Weile kann es Versuche geben, das Kind doch irgendwie normal zu bekommen. Sollte mich nicht wundern, wenn die Eltern bei der Geburt eines solchen Kindes das gesamte Kübler-Ross-Modell abklappern. Ich hoffe zumindest, dass sie dann bei der letzten Phase ankommen, das wäre für alle Beteiligten das Beste.
Dann nämlich lieben sie ihr Kind ohne den Wunsch, es müsse doch wie alle anderen Kinder seines Jahrgangs sein. Dann lernen sie, mit ihm umzugehen, indem sie nicht das Kind, sondern ihre eigenen Verhaltensweisen zu ändern versuchen. Das heißt nicht, dass sie keine Enttäuschungen und/oder Zurückweisungen mehr erleben müssen; wie oft kommt es vor, dass meine Eltern mir gern helfen würden, aber ich lasse das nicht zu, weil ich meinen eigenen Plan davon habe, wie Probleme und ihre Lösungen funktionieren?
Es muss unglaublich anstrengend sein, ein entbehrungsreicher Weg, wenn man ein ganz besonderes Kind hat - gleichzeitig kann es aber auch so bereichernd sein, wenn man seine eigenen jahrzehntealten Verhaltensmuster aufbrechen muss und neue Blickwinkel kennenlernt.
Und warum schreibe ich darüber? Weil es in dem gestrigen Film, Jeff Nichols' Midnight Special (2016), genau um ein solches Kind geht. Ich werde nicht spoilern, inwiefern das Kind besonders ist; vielleicht gibt das Schutzbrillen-Foto oben schonmal eine kleine Idee, worum es gehen könnte (aber keine Sorge, die Wahrheit ist wesentlich größer). Das Schöne ist, dass der Film sich nicht ausschließlich auf die Anstrengungen vieler erwachsener Menschen konzentriert, die herauszufinden versuchen, was denn nun genau mit diesem Jungen nicht stimmt; viel interessanter sind die Bemühungen der Eltern, ihr Kind vor dem Zugriff fremder Personen zu schützen.
Nichols scheint ein Händchen für Psychologie und unkonventionelle Erzählweisen zu haben - so hat er sich in Take Shelter (2011, übrigens, wie bei Nichols so oft, auch mit Michael Shannon in einer Hauptrolle - diese Augen! Und Kirsten Dunst als Mutter liefert wieder eine großartige Performance ab) dem Thema Paranoia gewidmet, und erfrischenderweise ohne viele Klischees um Authentizität bemüht. Ich fand Midnight Special ziemlich spannend (ist eben Science Fiction), anspruchsvoll (endlich wieder ein Film ohne stundenlange Expositionsdialoge) und schließlich emotional berührend - und gleichzeitig eine Coming-of-Age-Story des Jungen, um den sich alles dreht. Ein aufregender Blick auf ein Elternpaar, das bei dem Versuch, ihren Sohn zu schützen, wieder zueinander findet (eventuell...).
post scriptum: Ich habe diesen Beitrag heute mittag geschrieben. Im Verlauf des Tages ist mir bewusst geworden, wie stark der Film in meinem Kopf hängen geblieben ist. In solchen Fällen fange ich an, mich zu informieren, und lese Filmkritiker, die überlegen, ob Jeff Nichols der nächste große Geschichtenerzähler unserer Zeit werden kann - so wie Steven Spielberg damals. Mit gerade mal neununddreißig Jahren zeigt er unglaublich viel "Einsicht" in seinen Filmen - und sorgt dafür, dass sie nachwirken. Ich denke, ich werde den Film nachher direkt ein zweites Mal schauen, diesmal auf Englisch. Mag ich eigentlich sowieso lieber, aber ich hatte Angst, dass ich irgendwas Wichtiges nicht mitbekommen könnte, und die Version des Films bei "Amazon prime" hat keine Untertitel.
Liebe Die große Buba, das ist ein Film für uns zwei!
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Wir haben den Eintrag mit Interesse gelesen.
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Mama und Papa