Montag, 31. Oktober 2016

Auf ein Neues...

Schüler sind schon was Tolles...
...geht es wieder in die Schule, diesmal ohne Daylight Saving Time. So nennt man in der englischsprachigen Welt die Sommerzeit, ein schön transparenter Begriff: Abends bleibt es eine Stunde länger hell, auf diese Weise kann man den Tag effizienter nutzen. Oder versteckt sich dahinter etwa nur eine Strategie, um Energie zu sparen?

Wie dem auch sei; ich hoffe, dass alle an Schule Beteiligten, die ich so kenne, in den vergangenen zwei Wochen Energie tanken konnten. Ich hab' gestern keinen Blogeintrag geschrieben, weil ich einigermaßen ängstlich zuhause gesessen habe und mich gefragt habe, ob ich das hinbekomme. Ein Zeichen für mich, dass ich bestimmte Gedanken endlich wieder aus meinem Kopf streichen muss, zum Beispiel, dass ich irgendjemandem irgendwas beweisen müsste.

So ging der Tag heute um, erste bis neunte Stunde, und es ist alles reibungslos verlaufen, wenn man von gelegentlichem Herumbrüllen mal absieht. Für meine Verhältnisse ungewöhnlich: Ich habe mit keiner meiner Lerngruppen über die Ferien geredet, nichtmal als simple past-Wiederholungs-Anlass genutzt ("What did you do...?"). Und gar nicht mal viel wiederholt, sondern gleich ran an die nächste Grammatik, bevor Ende der Woche, Anfang nächster Woche die ersten Tests anstehen.

Es hat gut getan, wieder in der Schule zu sein. Wenn ich in diesen Ferien auch genug Denkfutter hatte, so ist es doch ein anderes Gefühl, am späten Nachmittag nach Haus zu kommen und richtig was geschafft zu haben. Da fühlt sich das Gehalt richtig verdient an. In der einen oder anderen Pause mal ein Basler Läckerli schmeckt auch wesentlich besser, wenn man etwas Hunger und Appetit hat.

Ansonsten merke ich die Zeitumstellung recht deutlich, montags heißt es im Dunkeln zur Schule, im Dunkeln nach Haus. Ein bisschen tut es mir Leid für die Schüler, die im gebundenen Ganztag mehrere Nachmittage in der Schule verbringen. Immerhin bekommen sie an Langtagen keine Hausaufgaben zum nächsten Tag auf. Respekt! Ich wäre für diese Schulart wohl viel zu faul gewesen. Für mich war damals das höchste der Gefühl einmal neun, zweimal sieben und zweimal fünf Stunden in der Woche. Aber dafür hatten wir ja auch noch jeden zweiten Samstag Unterricht.

So, Unterricht für morgen steht, das wird ein langer Tag inklusive LeKo. Was wäre unser Berufsalltag ohne reichlich Konferenzen? Aber ich muss zugeben, ich finde das ganz spannend, weil man da endlich mal ein Klassenkollegium beisammen hat (je nach Konferenztyp) - in einem großen Kollegium, das sich in der Schule über mehrere Lehrerstützpunkte verteilt, ist das nicht so einfach.

Liebe Kollegen und Schüler, ich wünsche Euch einen guten Start in diese Schulzeit!

pot criptum: a upr, jtzt hat ich auch och dr dritt Buchtab vrabchidt - btimmt all ur, wil ich mit dm taubaugr auf höchtr tuf di Tatatur abgaugt hab. ächt Mal gh ich icht o gwalttätig ra. Ich hoff, dr Ihalt lät ich trotzdm och iigrmaß rchliß. Di vrrückt Buba ud di Rocky Moutai k ja h kaum ormal vo mir. Roby-Poby!

Samstag, 29. Oktober 2016

Lara Croft


1996, vor zwanzig Jahren, hat eine Videospielheldin die Bühne betreten mit einem recht einfach gestrickten Abenteuer namens Tomb Raider, zu deutsch Grabräuber. Seitdem ist viel passiert, und es hätte damals wohl niemand gedacht, was mit diesem Debüt alles losgetreten werden sollte. Aber es wurde offensichtlich ein Nerv in der Spielergemeinde getroffen, was nicht zuletzt der Ikone des Spiels zu verdanken ist.

Im ersten Spiel, auf der Suche nach dem Scion, wurde Lara vom Charakter her recht eindimensional präsentiert, der Fokus lag auf prallen Brüsten, aufgespritzten Lippen und knappen Expeditionsoutfits. Das war auch in Ordnung, denn man wollte ein Actionabenteuer kreieren und keine Bergman-Charakterstudie. Und endlich sollte es mal eine weibliche Hauptfigur geben. Indiana Jones, Edward Carnby, warum immer Männer? Lasst uns doch mal eine Vorlage für die feuchten Träume unzähliger junger und junggebliebener männlicher Spieler erschaffen.

Lara Croft ist eine starke Powerfrau. Sie lässt sich weder von Unwettern, noch von wilden Tieren davon abhalten, Schätze zu finden, immer auf der Suche nach der Wahrheit. Sie hat für jede Situation einen coolen Spruch bereit, wobei sie sich beim Sprechen grundsätzlich kurz fasst. Das ist einfach cool. War es vor zwanzig Jahren und ist es immer noch. Es gab diverse neue Teile in der Spielereihe, ohne dass an der Figur der Lara Croft viel geändert wurde. Das Prinzip blieb gleich: Feinde besiegen, Fallen überwinden und Schätze aufspüren.


Lara hat einen äußerst seltenen Sprung geschafft, und zwar aus dem Computerspiel in zwei sogar recht erfolgreiche und sehr unterhaltsame Hollywood-Produktionen. Und auch da hat man einen Volltreffer gelandet, indem man die Rolle mit Angelina Jolie besetzt hat. Sexy, cool, scheinbar unbesiegbar.

Irgendwann allerdings schien es, dass die Serie ausgelutscht ist. Dass man es gut sein lassen sollte, die Cashcow konnte nicht weiter gemolken werden. Doch es kamen neue Ideen, immer verbunden mit der Frage nach Laras Hintergrund: Was ist mit ihren Eltern passiert? Wie ist Lara zu der coolen Actionikone geworden? Mittlerweile zwei Serien-Reboots widmen sich der Frage, und die aktuelle Serie hat eines der besten Spiele der ganzen Reihe hervorgebracht, Rise of the Tomb Raider, das vor einigen Tagen auch endlich für die PS4 veröffentlicht wurde.


Wir erleben Lara als Teenager. Keine coolen Sprüche. Keine Unbesiegbarkeit. Noch nicht im Besitz unzähliger Kampf- und Überlebenstechniken. All das lernt sie auf der Suche nach einem Schatz, den ihr Vater damals aufspüren wollte. Und endlich geht es nicht in erster Linie um die Titten - Lara Croft erhält mehr Tiefe, als die Filme und Spiele zuvor es haben leisten können. Aus erster Hand erlebt man mit, wie Lara zu dem Menschen geworden ist, den man vor zwanzig Jahren durch atlantische Ruinen steuern durfte.

Was dem Spiel dabei äußerst zuträglich ist, ist das hohe Maß an Authentizität, das man zu erreichen versucht. Man kann jeden auf natürlichem Wge zugänglichen Bereich des Spieles erforschen, keine unsichtbaren, willkürlichen Grenzen. Lara hat nicht unendlich Munition für eine der zahllosen Waffen, mit denen sie im Spiel kämpfen kann: Mithilfe von Ressourcen (Holz, Federn, Giftpilze usw.) muss sie sich die Munition selbst herstellen. Es gibt keine Medipacks mehr, sondern Stoff und Kräuter werden benötigt, um Wunden zu heilen (dass das erstaunlich schnell geht, wollen wir dem Spiel zugute halten). Mithilfe der gefundenen Ressourcen kann man schließlich die eigenen Waffen um viele Extras verbessern, für einen erhöhten Schaden oder verbesserte Schussfrequenz.

Das Spiel hält eine Vielzahl an optionalen Missionen, Gräbern und Herausforderungen bereit - die bei erfolgreichem Abschließen Belohnungen bereithalten, zum Beispiel in Codices enthaltenes Wissen über verbesserte Überlebenstechniken. Es ist unglaublich zufriedenstellend, von sich aus einen geheimen Eingang zu einem Grab zu finden und die dortigen Rätsel zu absolvieren.

Lara ist auf einem tollen Weg und es zeigt sich, dass eine Spielereihe auch nach zwanzig Jahren noch positiv überraschen kann. Ich würde mich freuen, wenn es auch für das bevorstehende Release von Final Fantasy XV gelten würde, aber dem sollte ein eigener Beitrag gewidmet werden. An dieses Spiel stelle ich sehr hohe Erwartungen und habe ein wenig Angst, dass sie enttäuscht werden. An Rise of the Tomb Raider hatte ich kaum Erwartungen gestellt und bin extrem positiv beeindruckt worden.

Freitag, 28. Oktober 2016

Wenn Menschen Fehler machen

Wenn doch nur alle Pläne automatisch übersichtlich wären und jeder sie gleich verstünde...

Wir alle machen Fehler, nobody is perfect. Gut, wenn wir dann aus unseren Fehlern lernen können - dazu müssen wir allerdings merken oder drauf hingewiesen werden, dass wir etwas falsch gemacht haben. Das ist für mich durchaus problematisch, denn es kann mich gedanklich blockieren. Wenn ich Fehler bei Anderen bemerke. Nehmen wir ein Fallbeispiel: Der Klassenarbeitsplan.

Jede Schule hat irgendeine Form eines Organizers für die Klassenarbeiten, damit nicht mehr Leistungsnachweise pro Tag oder Woche geschrieben werden als zulässig. Jede Schule hat ihr eigenes System und meistens hat man auch eine Anleitung, wie die Eintragungen genau vonstatten gehen sollen. Zumindest ist es bei uns so, und die Anleitung hat keinen Ermessensspielraum, sondern ist eindeutig und präzis.

Ich schaue mir die Anleitung an und freue mich, dass ich etwas habe, woran ich mich halten kann, trage meine Arbeitstermine ein, aber leider kann ich ja weitere Impulse nur so schwer ausblenden, ich nehme die gesamte Übersicht wahr und sehe, wo andere Kollegen sich nicht an die Anleitung gehalten und Fehler gemacht haben. Na und, sagt da der Normalbegabte, scheiß drauf, ist doch deren Problem, einfach ignorieren.

Ich und ignorieren? Mein Gehirn geht da andere Wege:
1) Den Fehler genau definieren
2) Gründe überlegen, wie es zu dem Fehler kommen konnte
3) Schauen, wer den Fehler gemacht hat
4) Ein psychologisches Kurzgutachten erstellen
5) Überlegen, ob ich den Fehler verbessern soll
6) Ins Zweifeln kommen, ob ich selbst das überhaupt richtig gemacht habe
7) Überlegen, wer der Ansprechpartner für den Plan ist
8) Den Schuh anziehen: Der Fehler lag garantiert bei mir!
9) Noch einen Schuh: Ich muss das klären!

Und das kann zu endlosen Blockaden führen. Wenn Menschen Fehler machen, möchte ich sie am liebsten sofort korrigieren, sie darauf hinweisen, einen Erkenntnisgewinn verursachen. Klappt aber nicht immer, weil manche Kollegen nun mal beratungsresistent sind, und auch anleitungsresistent. Man kann es fünfmal in unterschiedlichen Sprachen aufschreiben, wie der Organizer funktioniert: Irgendjemand macht es immer falsch. Und ich suche den Fehler nunmal zuerst bei mir.

Versagensängste und so.

Donnerstag, 27. Oktober 2016

Du


Der unsägliche Markus Lanz mal wieder. Unsäglich, aber immerhin noch schreiblich, und ich kann es ja nicht lassen, mir solche Fremdschäm-Auftritte anzuschauen. Und wenn dann auch noch Richard David Precht bei ihm zu Gast ist, na Mahlzeit, da haben sich zwei gefunden. Aber, darum geht es mir eigtlich gar nicht, das war nur der Auslöser des heutigen Eintrags. Denn bei Markus Lanz kommt es recht oft wohl vor, dass er seine Gäste duzt.

Nun mag manch' einer sagen, wie unflätig, wie respektlos gegenüber seinen Gästen, wozu haben wir schließlich die höfliche Anrede! Soll das etwa jugendlich und cool wirken, und will er auf diese Weise herausheben, wie gut er seine Gäste bereits kennt? Um die Jugend kann es kaum gehen: Markus Lanz ist siebenundvierzig, Richard David Precht wird zweiundfünfzig. Alter schützt vor Torheit nicht, aber das ist hier fehl am Platze.

Anlässlich dieser Duz-Angewohnheit frage ich mich, wie ich selbst es mit der Anrede halte, und wie ich es von meinen Schülern einfordere. Wenn ich einen Erwachsenen zum ersten Mal treffe, sieze ich ihn in der Regel, aber manchmal kommt mir auch das Du über die Lippen, wenn er mir jünger erscheint als ich es bin - und das ist so langsam öfters mal der Fall. Bei den Schulkindern ist es ja normalerweise so, dass ich sie duze und genaugenommen in der Sekundarstufe II zunächst verpflichtet bin, ihnen das Sie anzubieten. Meistens bleibe ich beim Du.

Und die Schüler den Lehrern gegenüber? In Klasse 5 und 6 rutscht ihnen gern das Du heraus, "Du Herr Lehrer, was ist deine Lieblingsfarbe?" - daran störe ich mich überhaupt nicht. Und spätestens in der Sek II stelle ich es den Schülern frei, mich zu duzen. Das hat für mich überhupt nichts mit Respekt zu tun. Ernst empfundener Respekt äußert sich - meiner Auffassung nach - nicht in Worten, sondern Taten, im gesamten Verhalten des Anderen mir gegenüber. Das gilt auch generell, "Actions speak louder than words do", wie mir Celldweller in einem Song erzählt, und damit kann ich mich identifizieren. Danke, Flo.

Wie halte ich es mit Kollegen? Also, meine Schulleitung habe ich immer gesiezt. Meine Husumer Schulleiterin würde ich um nichts in der Welt geduzt haben wollen. Und das gilt letztlich auch für Eckernförde. Jetzt, in Neumünster-Brachenfeld, ist das anders: Ich duze meine SL' in fröhlicher Gemeinschaftsschultradition und ich merke, wie gut mir das tut, aus Gründen der Wahrnehmung: Wenn ich einen Menschen sieze, baut das in meinem Empfinden eine künstliche Distanz zwischen uns auf. Wie ein Sicherheitsabstand. Wenn ich aber mit einem Menschen zusammenarbeiten soll - in diesem Fall zum Wohle des Kindes - dann brauche ich das Du. Denn dadurch fällt es mir leichter, die Zusammenarbeit auch wirklich als solche zu empfinden.

Einige Sprachen haben das einfacher. Englisch you, auch wenn es mal unterschiedliche Anredeformen gab (of which thee hast knowledge, I presume). Dänisch verwendet auch das Du, Spanisch unterscheidet zwischen tu und usted.

Nur in einer Talkshow, die von einem Springquell an Fettnäpfchen moderiert wird, wirkt es für mich nicht richtig. Zum Glück bin ich nicht im Fernsehen, ich würde so Vieles nichts verstehen - aber das Fass bleibt jetzt erstmal geschlossen.

post scriptum: a toll, jtzt ist auch och das  kaputt. och mhr Buchstab ud ich ka das als Ghimschrift butz.

Mittwoch, 26. Oktober 2016

Basler Läckerli


Jetzt wird es würzig-süß; eigentlich bin ich kein Fan von Weihnachtsbäckerei. Naja, zumindest dachte ich das die letzten Jahrzehnte über. Allerdings muss ich mich angesichts der vergangenen Wochen wohl den Tatsachen stellen: Ich bin verrückt nach diesem süßen Zeug. Und besonders gern mag ich es, wenn verschiedene Gewürze verarbeitet sind, Vanillekipferl z.B. finde ich eher langweilig. Vor Jahren habe ich von einem damaligen Freund eine Backidee bekommen - die Basler Läckerli, eine Honigkuchen-Variante. Ein eher schweres Gebäck, das umso herrlicher schmeckt, je länger es steht. Also auf ans Backen!


Basler Läckerli

nach Großmutterart

Zutaten für 2 Bleche:

450 g
Honig
300 g
Zucker
½ EL
Zimt
1 Prise  
Nelkenpulver
½ TL
Muskat
100 g
Orangeat, gehackt
100 g
Zitronat, gehackt
200 g
Mandel(n), grob gehackt
1
geriebene Zitronenschale
100 ml
Kirschwasser
600 g
Mehl
½ TL
Backpulver
150 g
Puderzucker
3 EL
Wasser

Honig, Zucker und Gewürze in einem Topf langsam aufkochen lassen und vom Feuer nehmen. Orangeat, Zitronat, Mandeln und abgeriebene Zitronenschale beigeben und alles mischen. Kirschwasser, Mehl und Backpulver dazugeben und alles mit Knethaken zu einem Teig vermischen.

Den noch warmen Teig ca. 5 mm dick rechteckig auf zwei mit etwas Mehl bestreuten (oder mit Backpapier belegten) Blechrücken ausrollen und einige Stunden ruhen lassen (z. B. über Nacht; manche lassen den Teig wochen- oder monatelang stehen). Dann in der Mitte des vorgeheizten Ofens 15 bis 20 Minuten bei 190 Grad (Umluft) backen (190 Grad Ober/Unterhitze lieber 20 min).

Währenddessen Puderzucker mit Wasser für die Glasur mischen (man kann den Puderzucker für das richtige Aroma auch mit Kirschwasser anrühren). Nach dem Backen sofort glasieren, den harten Rand wegschneiden und danach die Leckerli mit einem Pizzaroller (oder vorsichtig mit dem Messer) in ca. 4x5 cm große Rauten schneiden (nach dem Abkühlen sind sie hart und schwer zu schneiden).

Die Leckerli halten sich am besten in einer Plastiktüte. Sie sollten nicht komplett austrocknen, da sie sonst sehr hart werden können (man kann sie aber leicht wieder aufweichen, indem man sie in einer Schüssel mit geschnittenen Apfelscheiben für eine kurze Weile abgedeckt aufbewahrt). Schmecken das ganze Jahr und eignen sich gut zu einem guten Glas Rotwein! 

Arbeitszeit:
ca. 30 Min.
Ruhezeit:
ca. 8 Std.
Schwierigkeitsgrad:
normal

Dienstag, 25. Oktober 2016

Der Wanderer - Eine Schauermär


Der Herbst hält Einzug, die Bäume schütteln ihr Laub herab, die Sonne zeigt sich dieser Tage nur kurz - wenn überhaupt. Die Menschen bleiben in ihren Häusern, wo es warm und trocken ist und der Regen an die Fensterscheiben prasselt. Früh schon wird es dunkel, aber in dieser Jahreszeit wird der graue Himmel an manchen Tagen nie wirklich hell. Es ist die Zeit der warmen Jacken und Stiefel. Es ist die Zeit des Regens, des Windes, der Dunkelheit. Es ist die Zeit des Wanderers.

Die Mutter zieht ihre Tochter dichter an sich, während sie über das Herbstlaub den Heimweg von ihren Einkäufen antreten. Auch heute regnet es, und sie tragen beide Regenjacken, Einkaufstaschen in den Händen. Die Mutter ermahnt ihre Tochter, nicht zu schnell zu laufen: Durch die nassen Blätter ist es rutschig geworden und der Weg ist im abendlichen Dunkel nicht mehr gut zu erkennen. Baumwurzeln haben hier und da den Weg aufgebrochen und drohen dem allzu unachtsamen Schritt.

Auch der Wanderer ist unterwegs. In dieser Atmosphäre wirkt er furchteinflößender als sowieso schon. Er trägt eine Kutte wie Gevatter Tod selbst, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Niemand kann einen Blick seiner Augen erhaschen. Bei jedem Schritt klirren die Metallteile an den Stiefeln des Wanderers, um seine Anwesenheit zu verkünden. Er geht schnell, blickt dabei stets nach unten, schaut sich nicht um, grüßt nicht, hält die Hände in der Kutte verborgen. Niemand wird ihn aufhalten.

Er wandert stadtauswärts, weg von den Lichtern der Häuser, hin zum Dunkel der Bäume des Drachensees. Zwischendurch überlegt er, ob er eine Pause machen soll, aber ihm wird bewusst, dass er nicht mehr anhalten kann. Es ist zu spät. Dennoch zügelt er das Tempo seiner Schritte und atmet dabei tief durch. Es gibt kein Zurück. Wenn er jetzt nicht sein Ziel erreicht, wird er einen grausamen Hungertod sterben. Denn er hat mal wieder nicht nachgedacht und vergessen, Nahrungsmittel einzukaufen. Doch dort hinten, durch das Dunkel der Nacht, scheint das Licht der Hoffnung ihm entgegen, hoch oben, weithin sichtbar, verspricht es Rettung für all jene Seelen, die zu spät merken, dass ihnen noch etwas fehlt. Denn EDEKA hat bis 21.30 Uhr geöffnet und seine Leuchtreklame lockt Wanderer von nah und fern herbei - Wanderer wie ihn.

Er muss diese Mission allein absolvieren, denn sein treues Ross, La Buba, weilt fröhlich klospülend im Paradies des Komponisten Verdi. Es sollte sich als recht kompliziert erweisen, denn etwas ist mit dem Wanderer nicht in Ordnung. Die Mutter und das Kind haben schon von Weitem ein Schwanken im Gang des riesenhaften, furchterregenden Wanderers entdeckt. Das ist ja erstaunlich, es wirkt, als habe der Wanderer zuviel getrunken! Dabei trinkt er seit vielen Monaten keinen Alkohol mehr, auch und gerade wegen solcher Missionen wie dieser heutigen auf dem Weg zum heiligen Gral der Fertigpizza.

Er dachte, er wäre klarer im Kopf. Als er seine Wohnung verließ, schien alles noch in Ordnung zu sein. Auf dem Weg durch das endlose Treppenhaus half ihm das Treppengeländer, das ihm festen Halt in den Wogen des verlorenen Gleichgewichts gab. Im Erdgeschoss angekommen dräute es ihm, als er das Geländer loslassen musste: Dies wird keine einfache Mission. Aber solange er einfach nur wandern musste, sollte es keine Probleme geben, und so ist er den Weg zum Supermarkt fast reibungslos und unfallfrei gewandert. Und die Mutter hat ihr Kind rechtzeitig aus dem Kollisionsbereich der schwankenden Silhouette des Wanderers gezogen; was auch immer sie dabei gedacht haben mochte, sicherlich ordnete sie ihn im Bereich gewaltbereiter Erwachsener ein, denn sie ist eine Anhängerin der heiligen Religion des Mainstream. Schakkeline, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe wie bei Aldi, so auch bei Rossmann. Doch der Wanderer hat dieser Religion entsagt und wird seither als Anti-Normalbürger gebrandmarkt.

Sein Puls wird schneller, seine Schritte auch, all das geschieht ohne sein Bewusstsein. Ist es, weil das Ziel naht? Durch den Regen streift der unheimliche Wanderer in weiser Voraussicht am Rande des Parkplatzes Richtung Eingang. Es ist zwar spät, dennoch fahren vereinzelte Autos auf dem Parkplatz umher und er hat Angst, dass er trotz seiner Größe übersehen werden könnte, seiner schwarzen Kleidung geschuldet, auch befürchtet er, dass sein Schwanken ihn direkt vor die Motorhaube eines herannahenden Wagens werfen könnte. Noch immer blickt er sich nicht um, schaut in stoischer Ruhe auf die vor Nässe glänzenden Steine, mit denen sein Pfad gepflastert ist. Das Leuchten kommt immer näher, nun endlich blickt er auf und atmet erneut tief durch, versucht, das Tempo seiner Schritte unter Kontrolle zu bekommen. Er hört vereinzelte Stimmen, kein Zweifel, er hat es gleich geschafft. Die Schiebetüren des Supermarktes stehen offen, als erwarte alle Welt die Ankunft des Wanderers. Welch Glück für ihn, keine Hindernisse im Weg, der Einkauf kann beginnen.

Doch da! Ein junges Pärchen kommt ihm entgegen und nimmt fast die gesamte Breite des Eingangs in Anspruch - was soll er nur tun, er kann nicht anhalten! Und es wird noch verzwickter, denn von hinten nähert sich jemand mit noch schnelleren Schritten und drängelt sich zur Rechten an ihm vorbei. Er spricht mit nicht einheimischer Zunge, was hat der junge Mann für ein Problem? Der Wanderer wird nach links gestoßen, kann nicht anhalten, von vorne kommt das junge Pärchen. Heldenhaft - oder orientierungslos - wirft der Wanderer sich weiter nach links in die ausgestellten Süßwaren, damit das Pärchen nun ohne Mühe rechts an ihm vorbeigehen kann. Was mögen sie nur denken? Der Wanderer schaut nach vorn, doch seine Schritte ziehen ihn immer weiter nach links und er schafft es nicht, den Gang zu bremsen, er fängt an, zu stolpern und auf dem glatten Boden des Supermarktes tun die nassen Blätter unter den Gummisohlen seiner schweren Stiefel ihr Übriges und er fällt kopfüber in die Mandelspekulatius. Sie schaffen es allerdings nicht, seinen Sturz zu bremsen, denn seine hünenhafte Gestalt reißt alles in seinem Weg mit, und so stürzt der Wanderer mit einem Berg aus Gebäcktüten gegen die Glaswand des Eingangs, begraben unter Millionen von tonnenschweren Kalorien.

Hoffentlich hat das keiner gemerkt! Der Wanderer, nun endlich zum Stillstand gekommen, kniet auf dem Boden und blickt sich um in Erwartung des Chaos, das er angerichtet hat - doch es ist nichts zu sehen. Hat er sich das etwa alles nur einbebildet? Sein Puls rast, und abermals versucht er mit tiefen Atemzügen, seinen Körper und Geist unter Kontrolle zu bekommen. Er richtet sich wieder auf, stützt sich dabei an der Wand ab. Ihm wird klar, dass er nur ausgerutscht ist, es ist nichts weiter passiert und es hat auch niemand bemerkt. Was für ein Glück, denkt sich der Wanderer, wischt sich die Hände an der Hose ab und setzt seinen bedrohlichen Marsch zu den Fertiggerichten fort. Zunächst nur ganz langsam, mit kleinen, vorsichtigen und unsicheren Schritten, doch es dauert nicht lang, bis er wieder das gewohnte Tempo erreicht hat, inklusive der vereinzelten Schwankungen.

Hier, im hellen Licht der Neonröhren, bleibt sein Zustand nicht unbemerkt, und er bekommt mit, wie manche Kunden in ihrem Gespräch innehalten, während er an ihnen vorbeigeht, jeder Schritt begleitet von dem metallischen Klirren seiner Schuhe, den Blick wieder nach unten gerichtet, doch im Trockenen nun ohne die Kapuze seiner furchterregenden Kutte. Er ist sich bewusst, dass die größte Herausforderung seiner Mission immer näher kommt: Er wird stillstehen müssen, vor dem Kühlregal und auch später an der Kasse, zwei Meter groß und schwankend, und er wird nach dem Portemonnaie greifen müssen - er hebt seine Hand und versucht, sie still zu halten, doch es will ihm nicht gelingen: Die Finger zittern unkontrolliert, wie soll er später nur bezahlen? Ob er einfach der Kassiererin das Portemonnaie in die Hand drücken soll? Sein treues Ross, Buba La Tätta, übernimmt diese Aufgabe für gewöhnlich, doch widmet sie sich gerade hysterischen, fetten, schreienden Frauen (aber kein Besuch bei Sanni), sie wird ihm nicht helfen können.

All diese Gedanken tragen ihn in den hinteren Bereich des Supermarktes, die Kühltruhe kommt immer näher, es wird Zeit, anzuhalten. Aber wie? Diesmal ist kein rettender Stapel Mandelspekulatius in Sicht, in den er sich stürzen könnte. Vielleicht hilft es ja schon, wenn er sich an der Kühltruhe festhält, und so greift er mit der rechten Hand nach den archaisch anmutenden Einrichtungsgegenständen. Leider hilft es ihm nicht dabei, seinen Schritt zu verlangsamen, und so geht er immer weiter, bis die Reihe der Kühltruhen zu Ende ist. Längst ist er an der Pizza vorbeigegangen, und nun? Die Hand bleibt weiter an den Geräten, während er um die Ecke geht und auf der anderen Seite den Weg zurück antritt - genügend Zeit, um zu überlegen, wie er es gleich schaffen soll, anzuhalten. Die Dame an der Fleischtheke beobachtet ihn amüsiert - oder hat auch sie Angst vor dem unberechenbaren Wanderer?

Der zweite Anlauf, diesmal wird er es schaffen und drosselt seinen Schritt bereits beim Tiefkühlgemüse, um an den Pizzen zum Stillstand zu kommen. Er nimmt die zweite Hand zur Hilfe und stützt sich mit beiden Armen an der Kante der Truhe ab, endlich ist es geschafft. Doch ach! Die Auswahl! Welche Sorte soll er nehmen? Er sieht eine ihm bisher unbekannte Sorte, möchte sich ein Stück weit vorbeugen, um die Schrift auf der Verpackung besser lesen zu können. Doch in diesem Zustand gibt es für ihn kein "ein Stück weit", und so beugt er sich, weiterhin abgestützt, tief nach vorne, als wolle er den Kopf zwischen den Pizzakartons verbergen. Er schafft es nicht, rechtzeitig zu stoppen - und knallt mit der Stirn gegen die Glasabdeckung der Truhe. Das dumpfe Geräusch von Holz auf Glas bleibt zum Glück unbemerkt, der Wanderer genießt das kühle Glas an seiner Stirn, doch richtet sich zügig wieder auf. Seine Beine zittern. Wäre er doch nur in seinem sicheren Heim! Seine Beine zittern immer stärker, als plagten ihn Krämpfe, und er hat Angst, gleich zu stürzen, also drückt er die Knie fest gegen die Truhe und es hilft. Dazu atmet er laut hörbar ein und aus in dem Versuch, seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Er entscheidet sich schnell für zwei Pizzen, dankenswerterweise musste er nicht das gesamte Sortiment durchsuchen, wo er seinen Blick ja doch nicht für eine Minute lang auf einen Punkt fixieren kann; die roten Preisschilder verkünden ihm Sonderangebote, und so nimmt er seine Nahrung und eine Tiefkühltasche mit. Allein der Vorgang, die beiden Pappkartons in die Tasche zu bekommen, wäre ein oscarverdächtiges High Suspense-Drama wert, Schachteln und Tasche scheinen ein seltsames Eigenleben entwickelt zu haben - der Wanderer schafft es schließlich und setzt bedächtig seine Beine wieder in Bewegung. Er ist beruhigt: Das Gehen fällt ihm wesentlich leichter als das Stehen, und so wandert er viermal um die Regale mit den Tütensuppen, um sich unter Kontrolle zu bekommen.

Er hat es fast geschafft, die Blicke der Kunden lassen ihn kalt, er geht zur Kasse und ist erleichtert: Vor ihm steht ein offenbar sturzbetrunkener Mann, sehr gut, so schlimm geht es dem Wanderer dann doch nicht, denkt er bei sich und lächelt selig, während er versucht, die Pizzakartons aus der Tasche zu bekommen. Er versucht es, wird dabei mit den Händen immer gewalttätiger, und als er die widerspenstigen Teile endlich mit einem Ruck aus der Tasche befreit, stößt er mit dem Ellenbogen in das Süßigkeitenregal hinter sich. Ein Fach wird um etwa sechzig Zentimeter der Länge nach vom Inhalt befreit. Er kann nicht mehr.

Das ist der Moment, in dem der Wanderer zum ersten Mal während seiner Mission zu reden beginnt. "Oh ne, scheiße", legt alles auf das Laufband, möchte sich umdrehen, aber er ahnt schon, dass er das im Stehen nicht mehr schaffen wird. Unbeholfen blickt er die Kassiererin an, stottert "E-e-e-entschuldigen s-s-sie", er atmet tief durch, schließt kurz die Augen, "mein Kreislauf ist im Eimer, das tut mir leid", und dabei stützt er sich mit beiden Armen auf dem Laufband ab. Oder, er versucht es - greift daneben und sucht stattdessen am EC-Karten-Lesegerät Halt. Das jedoch hält dem zwei Meter großen Wanderer nicht stand und bricht Richtung Kasse aus seiner Halterung - was nicht weiter schlimm wäre, wenn nicht der Wanderer dadurch mit seinen Händen bis auf das Laufband durchbräche und für eine Entgleisung des Gummibandes sorgte. "Soll ich ihnen einen Arzt...", aber sie wird unterbrochen.

Denn... das Laufband ist diese außerordentliche Belastung nicht gewohnt, der Motor zieht mit aller Macht, kann aber das Laufband nicht weiter bewegen, da der Wanderer mittlerweile sabbernd quer über der Kasse liegt. Funken sprühen aus der Kassenmaschinerie hervor und greifen über auf die Zigarettenauslage. "Helga, kommst du mal Kasse 4!" trötet die genervte Kassiererin in das Mikrofon, doch ach! Der Wanderer, in seinem Ringen um Gleichgewicht, rollt sich von dem mittlerweile gerissenen Laufband ab, rempelt dabei aber die Kassiererin an, die vornüber kippt und sich gierig über das Mikrofon wie über eine Eistüte hermacht.

Dort Husten, hier Funken, da Knallen, und der Wanderer möchte einfach nur noch nach Hause und seine Pizza aufbacken, der Schädel dröhnt, die Kassenmaschine jault, die Kassiererin krächzt und die leiderprobte Hasseer Notfallsirene beginnt ihre ohrenbetäubende Arbeit. Er nimmt die Pizzen, eine in jede Hand, hinterlässt die Tiefkühltasche der hysterischen Zigarettenkartenfrau, die versucht, die Mikrofonkassiererin wiederzubeleben, and finally all hell breaks loose.

Der Herbst hält Einzug, die Bäume schütteln ihr Laub herab, die Sonne zeigt sich dieser Tage nur kurz - wenn überhaupt. Die Menschen bleiben in ihren Häusern, wo es warm und trocken ist, denn die EDEKA-Filiale in Hassee brennt lichterloh und der Regen kann den geöffneten Fließbandkassen-Höllenschlund nicht beruhigen.

Und der Wanderer wandert seines Weges. Und nimmt sich vor, nächstes Mal die Buba mitzunehmen, wenn der Bedarf entsteht. Doch es wird noch etwas dauern, bis der Hasseer Höllenkrater wieder mit Supermarkt und Parkplatzfläche bebaut werden kann.

Nehmt Euch in Acht vor dem Mann in Schwarz...

Montag, 24. Oktober 2016

Bye bye, Nippel!


Eine Ära in meinem Leben geht zu Ende: Der Nippelsessel, der mich durch viele Jahre Studium und danach begleitet hat, ist nicht mehr - zumindest nicht mehr hier. Allen geposteten Fotos ist gemein, dass sie Menschen zeigen, die ich auf die eine oder andere Weise gern habe. Und diese Menschen sitzen auf dem Sessel.
Wenn es nur eine Sache in meiner (damals unserer) Wohnung gab, die wirklich ausnahmslos bei allen Besuchern gut angekommen ist, dann war es der Nippelsessel, den ich damals von meinen Eltern in die neue Wohnung hinein "geerbt" hatte. Ein Stück im schicken Braungrün der Siebziger. Mag man heute als Designsünde betrachten, wobei sich das in einer Jagdhütte gut einfügen würde.
Was den Sessel auszeichnet, ist die Kombination aus guter Verarbeitung und Gemütlichkeit: Es gab nichts Schöneres, als mich nach einem anstrengenden Tag in den Sessel zu fläzen, Blick auf den Fernseher. Geniale breite Armlehnen für maximale Entspannung.
Und warum überhaupt "Nippelsessel"? Auf dem zweiten Foto erkennt man, dass der Sessel vorne zwei dekorative, naja, Nippel hat. Und es war jahrelang immer wieder eine Freude, sich beim Aufstehen am Nippel zu verhaken, ihn herauszuziehen und dann unter dem Sessel herumzukriechen, um den Nippel wiederzufinden. Und die Positionierung der Nippel genau am Ende der breiten Armlehnen lädt geradezu ein, beim Sitzen mit den Nippeln rumzuspielen (zieh' den Satz mal aus dem Zusammenhang, herrlich). Das beruhigt noch zusätzlich. Nippelsessel für maximale Chillung, wie wohl Jugend sagen würde.
Bye bye, Nippel! Du gehörst jetzt der großen Buba!

Samstag, 22. Oktober 2016

Discounter vs. Supermarkt


Im Studium war ich ein riesiger Aldi-Fan (diese Ausdrucksweise...). Ich hatte nicht viel Geld zur Verfügung - dank der Unterstützung meiner Eltern und einer Hiwistelle aber immerhin etwas über Durchschnitt. Dennoch habe ich mich diszipliniert, nur noch beim Discounter einzukaufen. Der Grund war in erster Linie praktischer Natur: Eine Aldi-Filiale lag direkt auf meinem Heimweg von der Uni, und es gab keine schnellere Möglichkeit, Einkäufe zu erledigen. Und dazu kommen dann eben die niedrigeren Preise - da hat es mich auch nie gestört, dass vielleicht qualitativ minderwertige Ware angeboten wird. Ganz im Gegenteil: Ich war vollkommen überzeugt von der Theorie, dass der Großteil der dort erhältlichen Produkte von namhaften Herstellern unter Pseudonym vertrieben wurde. Placebo-Effekt.

Mittlerweile habe ich einen Job und verdiene etwas mehr Geld, und sobald das Arbeitslosenloch komplett gestopft ist, muss ich nicht mehr jeden Cent zweimal umdrehen. Und es ist nun mal so, dass sich direkt vor meiner Haustür eine Sky-Filiale befindet, in der viele Markenprodukte (neben der Hausmarke) angeboten werden. Und weil ich ein faules Stück bin, nehme ich eben die mit, anstatt die dreihundert Meter zur nächsten Aldi-Filiale zu gehen.

Mittlerweile denke ich ein wenig differenzierter nach über die Unterschiede zwischen den No Name-Produkten und der Markenware. Anhand von drei Beispielen erläutere ich das hier: Schokolade, Zimtsterne, Salatboxen.

Seit Jahren vertreibt Aldi Schokolade der Marke "Moser-Roth". Sie ist qualitativ etwas hochwertiger als die kleinen Tafeln der anderen Aldi-Marke. Ich habe eine Zeitlang ganz bewusst die MR-Schokolade mit der von Lindt vergleichen und bin zu der Meinung gelangt, dass es tatächlich keinen geschmacklichen Unterschied zu geben scheint. Das führte so weit, dass ich felsenfest davon überzeugt war, dass MR eigentlich von Lindt produziert wird; dies ist allerdings nicht der Fall, denn MR wird derzeit von der Firma Storck hergestellt. Die geschmacklichen Unterschiede sind aber minimal, das denke ich auch weiterhin.

Dann gehe ich mit derselben Haltung auch an die Zimtsterne, die es etwa seit August im Weihnachtssortiment bei Aldi gibt. Man sollte die möglichst schnell testen, denn der Oktober ist bald rum und Anfang Dezember wird es dann Zeit für die Osterartikel. Nun bin ich geschmacklich verwöhnt von einem Markenprodukt in Sachen Zimtstern (sie sind halt tollwütig und mörderisch, aber ich liebe sie). Ich lass mal die Schleichwerbung. Und dann denke ich mir, naja, bei Süßwaren ist Aldi ja eigentlich nicht so schlecht dabei und beiße in einen Zimtstern der Billigmarke. Ich beiße hinein - nicht durch. Denn meine Zähne bleiben in dem massiven Teigmonster stecken. Es wirkt, als seien die Zimtsterne nicht gebacken, sondern als purer Teig durch eine Sternform gepresst worden und dann abgepackt. Eigentlich keine schlechte Idee, nur schmeckt das Ganze damit wie jedes andere Gebäck von Aldi, und auch wie das Marzipan: Eine teigige, massige Konsistenz, der Geschmack lässt sich einfach nur als "süß" beschreiben und jeglicher Stern sollte mit zwei Liter Wasser (oder Alkohol zum Trost) heruntergespült werden. Ich finde, Zimtsterne sollten locker und fluffig sein. Es gibt sicherlich viele Menschen, die das Gebäck von Aldi lieben, ich gehöre mittlerweile nicht mehr dazu und gebe lieber etwas mehr Geld aus. Und das sag' ausgerechet ich...

Und sehr ähnlich sieht es aus bei den Salatboxen. Natürlich gibt es viele Feinde des convenience foods, viele stellen sich ihre Salate lieber selbst her, was auch den enormen Müllberg dieser Salatboxen vermeidet und der Umwelt wesentlich weniger CO²-Fußabdruck aufdrängt. Tja, ich bin eben ein Umweltsünder, reif für die Notschlachtung. Und im Studium habe ich die Salatboxen von Aldi gemocht, schnell und unkompliziert und haben ja auch geschmeckt (und der Salat auch). Wenn ich nun allerdings eine Sky-Salatbox damit vergleiche, dann merke ich erst, was bei Aldi fehlt: Jeglicher Geschmack! Die Sky-Box ist knackig, saftig, schmeckt nach Karotte und Weißkraut, nach Mais und Hähnchenbrust. Die Aldi-Box schmeckt nach Wasser - alle Bestandteile des Salats schmecken gleich. Nur das fette Dressing gibt einen Hauch Geschmack dazu.

Seitdem ich diese Vergleiche angestellt habe, kaufe ich kaum noch bei Aldi ein. Ja, das wird dann eben teurer. Aber mittlerweile bin ich in einer Phase, in der ich das Leben genießen möchte, und ich esse schon so selten, da möchte ich dann wenigstens den Geschmack wertschätzen, der mir angeboten wird. Es ist wie mit den Pralinen, ich greife tiefer ins Portemonnaie, aber es lohnt sich.

Mich würde tatsächlich mal interessieren, wie sich das bei dem einen oder anderen Leser verhält. Macht Ihr ähnliche Erfahrungen? Kommentare ausdrücklich erwünscht!

post scriptum: Dagegen ist aber z.B. die Handcreme von Aldi unschlagbar gut! Warum muss das nur alles so kompliziert sein ;-)

Freitag, 21. Oktober 2016

Identität - die Geschichte von Timo und Julian (part 12)




Disclaimer: Diese Geschichte ist Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen und Ereignissen sind rein zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt. Das wäre ja sonst ein roman à clef, und zu solchen literarischen Kunststückchen ist der Autor sicher nicht fähig.

Dieser Abschnitt der Geschichte enthält explizite Darstellungen von Drogenkonsum sowie seinen Auswirkungen und/oder Szenen körperlicher Nähe. Wer an solchen Bildern Anstoß nimmt, möge dieses Kapitel bitte überspringen. Darüber hinaus möchte der Autor immer zu einem verantwortungsbewussten Konsum psychoaktiver Substanzen mahnen: Das ist der sicherste Weg zur Drogenmündigkeit, dem Gegenstück zur Abhängigkeit.

Identität – die Geschichte von Timo und Julian



part 12

Wieder wird um mich herum alles schwarz, doch diesmal baut sich die Parallelwelt viel schneller auf als letztes Mal. Ich konzentriere mich auf meine Atmung und versuche, den Puls zu beruhigen.
Was war das eben? Julian hatte mich am Arm gestupst, so wie wir es abgemacht haben, wenn er irgendwelche Probleme hat. Ein bisschen Sorgen mache ich mir, gerade auch, weil er sich mir überhaupt nicht mitteilen konnte. Diese Sprachstörungen sind ganz normal, aber was, wenn er mir sagen wollte, dass er in einen Horrortrip abgleitet? Da hilft auch sein manisches Kichern nichts – auch das kann einfach durch die Droge ausgelöst werden. Ich lasse mich in den Gedanken fallen, dass Ju sich nicht einfach in meinen Arm gelegt hätte und den Trip weiter gemacht hätte, wenn etwas wirklich nicht in Ordnung wäre. Vielleicht war er von den ganzen Effekten für einen Moment überfordert, ganz normal, das geht Vielen so. So war es früher bei mir auch.
Und somit gebe ich mich wieder meinen Gedanken hin, die von der geheimnisvollen Musik begleitet werden. Das Genre der Psybient-Mucke kenne ich erst seit einigen Monaten, aber es ist absolut fantastisch für solche psychedelischen Reisen, mit sehr vielen Effekten, so dass es quasi immer etwas zu entdecken gibt. Und dadurch werden die Lieder auch nicht so schnell langweilig.
Etwa eine Stunde liege ich so da, bis ich merke, dass das letzte Stück des Albums beginnt. Ju hat sich nicht wieder gemeldet, nur ab und an scheint er seine Liegeposition verändert zu haben und hin und wieder hat er ein Wort laut gemurmelt. Alles im grünen Bereich. Es müsste jetzt eigentlich so weit sein, dass er einigermaßen sprechen kann. Ich möchte mit ihm darüber reden, denn ich bin so gespannt, wie es für ihn ist! Und ein bisschen ängstlich, dass es nichts für ihn ist, und dass er danach vielleicht sogar auf Abstand zu mir geht. Mehr, als sowieso schon.
Ich greife links neben mich und taste nach dem Schalter für die Schwarzlichtröhre, die auf der Fensterbank liegt. Gefunden! Ich schalte das Licht ein und schlagartig wird der Raum vom blauen Violett des UV-Lichts düster beleuchtet. Ju schreckt neben mir auf.
„Wow!“ und setzt sich aufrecht hin.
Mist! Ich habe nicht daran gedacht, dass man das Einschalten des Lichts trotz geschlossener Augen sehr intensiv wahrnimmt. Jetzt wird er sich erschrocken haben, hoffentlich ist alles okay. Wir nehmen unsere Kopfhörer ab.
„Ooohhhh, Timotimotimotimotimotimo, was geht hier ab, was geht ab, das geht alles so schell, das ist alles so irre, das ist so geil“, und er kann gar nicht aufhören, in einem Mordstempo zu sprechen, wieder mit dem irren Grinsen im Gesicht – und seine Zähne klappern dabei. Ich spreche ganz langsam und deutlich zu ihm.
„Warte, Ju, warte einen Moment, ich mache uns etwas Musik an und dann können wir reden.“
Entheogenic. Love Letters to the Soul. Julian beugt sich nach vorne und stützt seinen Kopf auf den Armen ab. Er wippt leicht vor und zurück – scheiße, ist irgendwas passiert?
„Alles okay bei dir, Ju?“
„Hmmm… mmhh… ja, all…all..alles okay, wow, ist das nnnnnormal, da…da…dddass ich nicht richtig sprechen kann…nnnn…nn?“
„Das ist vollkommen in Ordnung. Versuch, ganz langsam zu sprechen, dann geht es einfacher. Und mach die Augen beim Sprechen zu. Denk dran, wir haben Drogen genommen, das heißt, dass die Wirkung auch wieder abklingt und morgen sind wir wieder ganz normal.“
„Och, aber ein bisschen darf der Effekt noch anhalten.“
Er gibt sich Mühe, klar und deutlich und ohne Zittern und Stottern zu sprechen. Beim langsamen Reden klappt das ganz gut. Zwischendurch klappert er immer wieder mit den Zähnen. Wir setzen uns wieder im Schneidersitz einander gegenüber, legen wie zuvor die Arme um den Nacken des Anderen, beugen uns vor und drücken unsere Stirn aneinander.
„Versuch doch mal zu erzählen, was du erlebt hast“, ermuntere ich ihn. Ich bin wirklich, wirklich neugierig. Und ich merke, wie schön es ist, ihn zu berühren. Ich würde ihn gerade wirklich gern in den Arm nehmen. Vielleicht… später.
„Das war total irre, ich habe ein richtiges Konzert gesehen, jeder Musiker der Band hatte seine eigene Bühne, und ich konnte einfach so in der Perspektive switchen. Es war, als ob jedes Instrument einzeln gespielt hat, die Musik klang irgendwie verzerrt, aber cool. An viel mehr kann ich mich aber irgendwie nicht erinnern, dabei war das phasenweise echt richtig geil!“
„Ja, die Amnesie schlägt je nach Dosis ziemlich stark zu. Während der Reise nimmt man alles ganz intensiv war, aber kann sich danach an fast nichts erinnern. Es sind ja auch Tausende von Gedanken, die man da hat, war das bei dir auch so?“
„Ja, und teilweise haben sie sich jede Sekunde geändert, zum Takt der Musik, so schnell konnte ich gar nicht folgen.“
Wir lösen unsere Umarmung und schauen uns in die Augen. Wie witzig, Julians Zähne leuchten blau vom Licht. Ich wette, bei meinen ist das auch so. Seine Augen wirken irgendwie leer, ohne Leben, das ist ein bisschen gruselig. Und sein grünes Tattoo scheint jetzt rot zu sein.
„Las uns mal die weißen Sachen anziehen“, sage ich aufmunternd, ich möchte, dass wir ein bisschen was vom Schwarzlicht haben. Ich habe ihm extra auf seiner Checkliste auch ein weißes Hemd notiert – momentan trägt er noch das schwarze Tanktop. Hmm, vielleicht sehe ich ihn ja gleich mal oben ohne – aber… der Gedanke reizt mich gerade überhaupt nicht. Völlig uninteressant. Wie kann das sein? Ach ja. Cut annulliert jegliches sexuelles Verlangen. Ich fühle mich asexuell. Macht aber auch nichts, denn er zieht das schwarze Shirt nicht aus, sondern das weiße Hemd einfach offen drüber.
„Ich muss mich mal einen Moment hinlegen“ sagt er und legt sich auf den Rücken. Ich will ihn aber anschauen, wenn wir miteinander reden, also drehe ich mich einfach zu ihm und setze mich auf seinen Oberkörper. Das sieht irgendwie witzig aus. Und fühlt sich schön an.
„Warte, bleib genauso liegen, ich mach mal ein Foto davon!“
Die Kamera liegt auf der Fensterbank. Zum Glück ist noch reichlich Speicherplatz vorhanden, so dass wir gleich auch unser Interview fortsetzen können. Aber erstmal schieße ich das Foto, auf dem Julian komplett in schwarz erscheint, nur das leuchtende Hemd ist zu sehen. Wie ein Gespenst. Er erzählt weiter.
„Zwischendurch wurde es einmal richtig, richtig stressig. Das war ein schneller Song und der hatte eine Passage mit double base, und ich habe gedacht, das wäre mein Herz, was so schnell hämmert, und ich konnte nicht mehr ruhig atmen und hab gedacht, mein Herz platzt gleich.“
„Ahhh, war das vielleicht die Stelle, an der wir eine kurze Unterbrechung gemacht haben?“
„Ja, genau. Timo, das war echt super, wie du mich da beruhigt hast, ich glaub, ich hätte sonst eine richtige Panikattacke bekommen. Danke danke danke.“
„Ju, das war doch unsere Abmachung. Dass du mir vollkommen vertrauen kannst. Dass ich dich damit nicht allein lasse, und dass ich auf dich aufpasse. Mach dir keine Sorgen, schließlich soll es für uns beide ein tolles Erlebnis sein.“
„Oh ja, das ist es auf jeden Fall. Du, das Reden ist grad etwas anstrengend, wollen wir uns nicht noch ein bisschen hinlegen und die Musik weiterhören? Irgendwie finde ich das Stück, das jetzt grad läuft, ganz schön.“
„Klar, können wir machen. Und das Stück ist auch verdammt toll, das Musikprojekt heißt Entheogenic, und sie machen an Natursounds angelehnte elektronische Musik. Echt großartige Sachen. Und das Stück jetzt gehört mit zu den besten Sachen, die sie bisher kreiert haben, und man hat auch lang gut davon, das geht eine knappe halbe Stunde.“
„Wow… und wie hieß das noch mal?“
„Love Letters to the Soul. Hmm, Liebesbriefe an die Seele, irgendwie passend für so einen Trip.“
„Ja, das stimmt wohl.“
Und so steige ich von ihm herunter, mache die Musik ein bisschen lauter und wir liegen mit offenen Augen nebeneinander, schweigend. Ich bin so glücklich. Es scheint ihm zu gefallen! Und das ist erst der erste Abend, wir haben noch ein bisschen vor uns. Ich freue mich schon darauf. Aber erstmal genieße ich das Hier und Jetzt.
Ich freue mich auch schon auf den Tee heute Nacht. Und vielleicht… naja… ich schäme mich ein bisschen für den Gedanken, aber… ne lass mal. Übertreib es nicht. Ich würde halt gern…
„Sag mal, deine Deckenlampe ist fest montiert, oder?“ unterbricht Ju meine Gedanken. „Weil, das sieht aus, als ob sie an der Decke im Kreis fährt, die hält einfach nicht still. Siehst du das auch so?“
„Ja, du hast Recht, bei mir fährt sie in einer Achterfigur.“
„Achterfigur, Achterbahn. Ich hab auf dem Trip auch Tittenheidi gesehen, und sie hatte ganz viele Schutzbrillen auf, die ihr alle weggeflogen sind. Das war vielleicht eine komische Frau! Aber die Serie ist eigentlich ganz witzig, davon gibt’s mehrere Episoden, oder?“
„Ja, bisher zwei Staffeln.“
„Wir könnten ja morgen vielleicht auch noch eine Folge schauen. Ich fands irgendwie faszinierend, wie plötzlich die Achterbahn angefangen hat, zu ruckeln, obwohl das Video ja ganz normal weitergelaufen ist. Genau wie du es angekündigt hattest.“
„Ja, ist schon spannend, was das Gehirn einem für Streiche spielen kann, oder?“
„Aber hallo, fast ein bisschen creepy, aber du passt ja auf mich auf.“
„Hab ich dir versprochen, wird ich auch weiterhin machen.“
Julian kann ja nicht ahnen, wie sehr mir diese Rolle gefällt. Als Beschützer, als Aufpasser, vielleicht ja sogar als Mentor für ihn. Und er vertraut mir… was genau fasziniert mich daran? Ist es das Gefühl, über einen Menschen Kontrolle zu haben? Oder ihm helfen zu können? Oder das Lehrerprinzip, jemandem was beizubringen? Oder dass ich ihm so etwas spannendes Neues zeigen kann? Oder… vielleicht einfach das Gefühl, ihm nahe zu sein? Unauffällig schiebe ich meinen rechten Arm ein Stück auf seine Matratze rüber, um ihn berühren zu können. Nur gut, dass er von alledem nichts weiß, dass er meine Gedanken nicht lesen kann, und ich werde mich hüten, ihm davon zu erzählen. Ich möchte ihn weder verschrecken noch vergraulen. Das ist Method Acting, und darin bin ich sehr talentiert. Nur… was für eine Grundlage für eine Freundschaft ist denn das, wenn ich nicht offen und ehrlich zu ihm sein kann?
Ach scheiß drauf. Er ist ein Kumpel, mehr nicht. Eigentlich geht es mir doch nur um seinen Körper, und wenn dieses Wochenende vorbei ist, meldet er sich bestimmt sowieso nicht wieder. Auch in der Zwischenzeit seit unserem Tag im Park hat er mir nicht oft geschrieben. Von sich aus gar nicht. Und wenn ich ihm geschrieben habe, hat er meistens erst einige Tage später geantwortet. Und dann immer diese „Mir geht’s so toll, ich hab grad mega Spaß“-Nachrichten. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass er sich für mich nicht interessiert. Und das meine ich nicht nur auf die Gefühlsweise, sondern generell nicht. Ich glaube, er verabredet sich nur mit mir, um die Drogen abzugreifen und das wars dann. Passt ja auch zu seinem Verhalten, wenn wir keine Zeit miteinander verbringen. Er würde sich doch sonst mal melden. So traurig und nervig diese Gedanken jetzt gerade sind, so helfen sie mir immerhin, die Fantasie loszuwerden, dass wir später… yeah, whatever.
Ein Kumpel, mehr nicht, er interessiert sich einen Dreck für mich, und ich sollte unsere Pausen nutzen, um ihn aus meinem Kopf zu bekommen, denn erst ist nichts weiter als eine Wichsvorlage. Zehntausend Volt in den Muskeln, aber in der Birne brennt kein Licht. Dabei wäre ich so glücklich, wenn es nicht so wäre. Aber er scheint noch oberflächlicher zu sein als ich, und ein bisschen einfacher gestrickt. Er ist nicht so kompliziert wie ich. Und darum beneide ich ihn, und deswegen hasse ich ihn. Nein, tue ich nicht. Scheiße. Scheißescheißescheiße. Was empfinde ich für Julian???

fortsetzung folgt...

Donnerstag, 20. Oktober 2016

Mittwoch, 19. Oktober 2016

Ich muss alles allein schaffen

Die Sonnenbrille schützt mich vor den Blicken der Leute, die vielleicht meine Schwächen sehen könnten.
 
Ich glaube, es könnte mir ganz gut tun, wenn ich dieses Thema einfach mal in den Blog schreibe, einfach mal verschriftlichen, weil es mir im Leben zwar selten, aber immer mal wieder begegnet. Und ich weiß nicht, ob das hier stellvertretend für alle Hochbegabten gelesen werden kann, deswegen schreibe ich es in der "Ich"-Perspektive und nicht als "man" oder "der HB". Und sicherlich werde ich hier zu Verallgemeinerungen neigen, und viele Dinge werden meiner Wahrnehmung entspringen, die nicht immer ganz der Realität entspricht. Aber es geht ja auch darum, wie es sich für mich anfühlt. Und es geht hier auch nicht darum, anzugeben, und meine Freunde wissen das auch.

"Du wirst das schon schaffen, Du hast immer alles irgendwie geschafft."

Diesen Satz habe ich in meinem Leben mit schöner Regelmäßigkeit gehört von meiner lieben Mutter, wenn bei mir schwierige Prüfungen anstanden. Wie Mütter nun mal so sind, wollte sie mir damit die Angst nehmen, dass ich scheitern könnte, und diese Angst hatte (und habe) ich immer, mal mehr, mal weniger stark, manchmal rational, oft irrational. Elterliche Fürsorge, entstanden teils aus Hilflosigkeit ("Was können wir denn sonst tun?"), teils aus der Beobachtung, dass ich ja tatsächlich immer alles irgendwie geschafft habe.

Durch Prüfungen, Klausuren, Referate, all solche Sachen, bin ich in meinem Leben so gut wie nie durchgefallen. Korrigiere: Nie. Ich habe alle Klausuren, alle Zeugnisse und jeglichen Schein im Studium beim ersten Mal bestanden, mal mehr, mal weniger gut. Ich weiß nicht, wie sich das Scheitern anfühlt. Im Referendariat habe ich mich extrem faul verhalten, weil mir das ganze System widerstrebt hat. Trotzdem habe ich mein zweites Staatsexamen erhalten.

Es mag sicherlich für viele Menschen als Vorteil erscheinen, wenn die Intelligenz eines Menschen ihn dazu befähigt, mit geringstem Aufwand all diese Prüfungen zu bestehen. Das ist aber leider nicht zu Ende gedacht. Denn welche Konsequenzen zeitigen diese Umstände?

Ich kenne nicht das Gefühl, zu scheitern. Ich kenne es nicht, deswegen zu weinen, zu schreien, Sachen kaputt zu schmeißen. Ich kenne diese Depression nicht, diese Wut, dass man wochen- und monatelang für einen Schein, eine Klausur gelernt hat, geackert wie ein Wahnsinniger, und trotzdem durchgefallen ist. In der Konsequenz kenne ich nicht das Gefühl, mich trösten zu lassen für Misserfolge. Mich von anderen Menschen wieder aufbauen zu lassen. Wozu auch? Klausur bestanden, mist, nur ne 2,3, das ärgert mich, mein Anspruch war, nur Einsen im Englischstudium zu schaffen.

Und da hätten wir das nächste Problem: Da ich alles irgendwie schaffe, ist mein Anspruch nicht mehr, "den Schein überhaupt zu bekommen". Ich will eine Eins vor dem Komma haben. Mit Ausnahme einer Hausarbeit ist das im Englischstudium auch geglückt, Durchschnittsnote 1,3. Ihr könnt Euch vorstellen, wie übel mir die mündliche Examensprüfung mit 3,3 zugesetzt hat. Eine Woche lang war ich jeden Tag betrunken, weil ich das nicht verarbeiten konnte. Ich habe mich nicht gefreut, dass ich "das Examen bestanden habe". Es war für mich wie der Gnadenschuss. Und die Ansprüche an mich steigen immer weiter: Ich bin es, der die komplette Begabtenförderung unserer Schule optimieren muss, ich allein muss alle HB-Schüler diagnostizieren, ich muss es allen Kollegen, allen Schülern und allen Elternteilen Recht machen. Jegliches Versagen wird nicht toleriert, und damit steigt die Angst vor dem Versagen auch immer weiter. Da beruhigt auch kein "Du hast immer alles irgendwie geschafft", und das betrübt mich ein wenig, denn meine Mutter hat es immer so lieb gemeint.

Und leider betrifft das "Ich muss alles allein schaffen"-Prinzip nicht nur die Bereiche, in denen meine Stärken liegen (z.B. pädagogisches Arbeiten oder Mathematik/Logik etc.). Wann immer sich in meinem Leben ein Problem eröffnet, freut mein Gehirn sich über die Herausforderung (denn es ist doch immer alles so einfach und langweilig) und beschließt, dass ich da ein Potential habe, mich weiterzubilden. Beispiel Auto: Mein Wagen springt nicht mehr an. Oh, woran könnte das wohl liegen? Hmmm, ich analysiere das mal. Wie klingt es, wenn ich den Zündschlüssel drehe? Öl und Kraftstoff genug vorhanden? Okay, muss irgendwas gereinigt werden? Warte mal, ich hab doch extra das zweihundertseitige Bordbuch, das lese ich erstmal, ich kann ja schnell lesen. Zwei Stunden später ist das durchgelesen. Und angenommen, es wäre auf Spanisch: Stört mich nicht, ich hatte doch nen Spanischkurs, also frische ich meine Sprachkenntnisse nochmal fix auf und kläre das dann. Wäre doch gelacht, wenn ich mein Auto nicht reparieren kann. Das zieht sich dann stunden-, vielleicht tagelang. Ich schiebe alle Erledigungen, die ich derweil mit dem Auto machen müsste, auf. Ich muss mir nicht helfen lassen, musste ich noch nie! Und dann kommen die Buba und die Legehenne und schlagen die Hände über dem Kopf zusammen und fragen mich, warum ich nicht einfach beim ADAC anrufe, sowas ist doch in einer halben Stunde geklärt! Und da mache ich dann (oder manchmal: "Kannst Du nicht da anrufen? Mir ist das peinlich"), und das Thema wird schnell und unkompliziert gelöst. Aber schnell und unkompliziert gibt es in meiner Welt nicht.

Weil sich so selten der Bedarf ergeben hat, weiß ich nicht, wie es ist, sich helfen zu lassen. Ich bin mir nicht des Umstandes bewusst, dass es für jedes Problem Spezialisten gibt, die mir helfen können. Den kaputten Kühlschrank repariere ich allein! Wasserdruck ist zu niedrig? Egal, ich brauche ja eh' nicht so viel Wasser, kann also so bleiben. Ich will nicht, dass irgendjemand denkt, ich bräuchte Hilfe. Seit dreiunddreißig Jahren ging das fast immer wie von selbst, das sollte sich jetzt doch wohl nicht ändern.

So, und nun kommt mir nochmal angeschissen mit "Hochbegabt? Das ist ja toll!" und "Wow, dann kannst Du ja alles Mögliche allein erledigen." und "Angeber, nur weil Du noch nie irgendwo durchgefallen bist." und "Na wow, Deine Intelligenz hätte ich auch gern." und "Du hast doch echt nur Glück gehabt, es gibt auch Leute, die dafür hart arbeiten müssen".

Und überlegt nochmal, ob Ihr wirklich mit mir tauschen wollt.

post scriptum: Für meine lieben Freunde und Familie ist das nochmal ein Memento dafür, wie schwer es mir fällt, Hilfe anzunehmen oder überhaupt anzufragen, selbst bei Kleinigkeiten. Überall steht immer "Er hat das alles erstaunlich schnell und selbständig geschafft" - ist ja auch in den dienstlichen Beurteilungen so - und damit habe ich immer wieder den Anspruch im Bewusstsein, dass das auch so bleibt. Die Leute lesen das und dem muss ich ja schließlich gerecht werden.

Aber, liebe Eltern: Wenn es wirklich nötig ist, werde ich mir für jedwede Sache auch Hilfe ranholen, macht Euch keine Sorgen.

Dienstag, 18. Oktober 2016

Die Zimtsterne (der Katastrophenthriller!!!)


Disclaimer: Danke an Daphne DuMaurier, Alfred Hitchcock und Bahlsen für die Inspiration!

Ein ganz normaler Herbsttag, so dachten wir. Jeder geht seinen Aufgaben nach - die verrückte Buba geht duschen, die fette Schwangere lässt sich von ihrem Balg treten (ich darf das sagen - immerhin passt sie in keinen Kleinwagen-Kofferraum mehr und braucht im Zug einen Sitz-Vierer allein für ihren Bauch; sie muss Zugreisen derzeit bei der Bahn anmelden, damit ein zusätzlicher Waggon angehängt wird. Schwangerschaft muss echt nervig sein...)  und ich versumpfe in meiner vollkommen verdreckten Wohnung. Nichts Besonderes soweit, im Hintergrund ein bisschen Musik, um mich zu entspannen von dem Koffein-Schub, den eine kleine Tablette bei mir bewirkt hatte, um mich aus dem Nebel des spätmorgendlichen Erwachens herauszukatapultieren. Verschlafen, was auch sonst. Mist. Meine Eltern würden sich freuen, ich habe sie bereits vor zwei Stunden anrufen wollen. Und das Ganze auch noch großspurig angekündigt. Ich sollte echt überhaupt nichts mehr ankündigen, sonst wecke ich nur falsche Erwartungen. Ob die Womsa-Buba dieses Gefühl kennt? Und die Rocky-Baby-Mountains?

Ich brauche eine halbe Ewigkeit zum Aufräumen, schaue mich erleichtert um und es sieht genauso mies aus wie immer. Naja, zum Glück sind Ferien, irgendwann werde ich den Antrieb finden, diese ganze Wohnung niederzubrennen und neu aufzubauen. Neu anzufangen, als neuer Mensch, als besserer Mensch. Yeah, whatever, ich brauche erstmal nen Tee, um mich von innen heraus aufzuwärmen, das scheiß Wetter kriecht selbst bei geschlossenen Fenstern und heruntergezogenen Rollos durch meinen Pullover, durch die Haut, tief in die Knochen und erzeugt in mir ein Unbehagen, das ich jetzt mit aller Gewalt auszutreiben versuche. Mein Schlechtwetter-Exorzismus besteht aus Tee, Keksen, Dunkelheit, Stimmungslicht und Lara Coft. Ach scheiße, der Anruf bei meinen Eltern. Und ich will ja - okay, warte, erstmal die Stimmung etwas besser werden lassen, die ist direkt nach dem Aufstehen immer so durchwachsen. Und dann rufe ich an, gibt schließlich vieles, was ich mitteilen möchte. Und es sollte noch mehr werden.

Aber zuerst mal Tee und Kekse, während das Koffein mich noch wacher macht und Blümchen-Msik durch die Wohnung wummert und meine frisch eingezogenen Studenten-Nachbarn ihre ersten Uni-Tage bereuen lässt. Und Lara steht in der sibirischen Landschaft bereit, Tiere zu jagen und aus deren Pelzen eine neue Jacke zu basteln, hat sie wohl auch bitter nötig, denn die ganze Zeit höre ich sie zittern und sehe ihren Atem in der kalten Luft - wie großartig, wo ich dieses Wetter doch eigentlich ausblenden wollte. Der Tee kocht auf dem Herd, super, und ich zünde die Nag Champa-Räucherstäbchen an, ich brauch jetzt einfach ein süßes Aroma, ha, Stichwort süß, ich brauche Kekse und öffne den Schrank, um die Zimtsterne ihrem Schicksal zuzuführen. Doch... was? Lebkuchen. Gefüllt. Marzipan. Keksmischung. Aber - keine Zimtsterne???

Wie kann das sein! Ich habe vorgestern erst ein paar Packungen eingekauft, im Supermarkt scheint meine Einkaufstasche auf Zimtsterne eine Wirkung auszuüben wie ein schwarzes Loch, die werden aus den Regalen direkt eingesaugt - dieses zarte, aromatische Gebäck scheint es irgendwie auf mich abgesehen zu haben, denke ich dann immer. Und meistens ist es so, dass ich - zuhause angekommen - die erste Ladung direkt inhaliere, noch bevor die meinen Süßigkeitenschrank überhaupt von innen zu sehen bekommt. Das geht ganz schnell, so ein halbes Pfund ist mit zwei Atemzügen vernichtet. Ach herrje... und ich hatte zuletzt nur drei Kilo eingekauft, und das ist jetzt zwei Tage her - das erklärt alles. Wie kann ich nur glauben, dass da noch ein herrenloser Zimtstern meine vernichtenden Atemzüge überlebt hätte und dem Gehege meiner Zähne entkommen wäre?

Angst. Keine Zimtsterne da! Lara muss warten, friert immer stärker, ich sehe, wie sie den Kältetod stirbt und ich erhalte tatsächlich eine Trophäe dafür, dass sie zum ersten Mal gestorben ist. Der Tee verkocht auf dem Herd fast, aber ich habe dafür keinen Nerv, was tue ich gegen dieses Keksdesaster? Draußen höre ich die Sirenen der Krankenwagen und sie tragen nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Katastrophe! Und dann klopf es an mein Fenster.

Es klopft? Wie kann das sein, ich wohne im dritten Stock an einer Kreuzung und habe da draußen keine direkten Nachbarn. Und wieder und wieder klopft es, und ich höre ein Klappern auf meinem Vordach, als ob jemand etwas gegen mein Fenster wirft. Und wieder die Sirenen, und plötzlich höre ich zusätzlich zu den Einsatzwagen die große Hasseer Katastrophensirene, was ist da los??? Ich öffne die Rollos und kann meinen Augen nicht trauen: Unten auf der Kreuzung eine Riesenkarambolage, die sich vor meinem Blick entfaltet. Ein Sky-Laster liegt quer über alle Fahrspuren verteilt, und ich muss nicht lang überlegen, was er wohl geladen haben mag. Die Plane ist komplett zerstört und ich sehe den gigantischen Berg Zimtsterne mit Glasur, der sich wie eine Wüstendüne über die Kreuzung ausbreitet. Eine dichte Wolke aus dem Nebel gemahlener Haselnüsse wabert die Straßen entlang, und an der Bushaltestelle sitzt die Womsa-Buba mit weit geöffnetem Mund und einem seligen Lächeln auf ihrem Gesicht - ganz im Gegensatz zu den anderen Menschen, die in Panik fliehen und um Einlass in die Häuser bitten. Was ist ihr Problem?

Ich muss nicht lange überlegen, denn das Klopfen an meinem Fenster setzt sich fort und wird immer aggressiver. Erst jetzt realisiere ich, dass es Zimtsterne sind, die gegen das Glas fliegen. Das kann doch gar nicht sein, wer wirft hier dieses wunderbare Gebäck herum? Die Menschen können es nicht sein, sie fliehen (mit Ausnahme der sich mästen lassenden Frau mit dem Poncho da unten), haben sich bereits in ihren Wohnungen eingeschlossenen und der Rest verteilt sich in Form von Leichen über die Bürgersteige - erschlagen und erstickt von einem Sturm aus Zimtsternen, die ein mörderisches Eigenleben entwickelt zu haben scheinen. Millionen von Zimtsternen erheben sich aus dem Wrack des Lasters, doch dabei soll es nicht bleiben - aus den Seitenstraßen stürmen Abertausende bösartiger Vanillekipferl herbei, die in kürzester Zeit den gesamten Luftraum über Kiel in Beschlag nehmen. Die Wucht der Schläge gegen das Fenster wird immer stärker, und ich sehe, wie die großen Frontscheiben des Supermarkts unten zu Bruch gehen und eine weitere Armee aus Zimtsternen sich den Weg aus dem Geschäft in die Freiheit bahnt.

De Menschen fallen wie Dominosteine (die zum Glück noch nicht zum Leben erwacht sind), gnadenlos stopfen sich ihnen die Zimtsternen in die nach Luft ringenden Mäuler, die Opfer kauen hilflos gegenan und schlucken Zimtstern um Zimtstern herunter in dem verzweifelten Versuch, der außer Kontrolle geratenen Wut des Weihnachtsgebäcks Herr zu werden - doch es ist vergeblich. Sie sterben den Heldentod, während die Zimtsterne unerbittlich ihren Feldzug gegen die Bevölkerung fortsetzen. Was hat sie nur so wild werden lassen? Was können wir tun? Bleibt uns etwa nur noch, zu fliehen? Und wie schafft La Buba es, fröhlich lächelnd weiter gegenan zu essen? Sollte sie es etwa sein, die uns letztlich vor der Herrschaft der Zimtsterne retten kann?

Doch sie schafft es nicht. Ich sehe ein: Wir haben verloren gegen die Invasion der knusprig-leichten Kekse. Wir werden wohl nie erfahren, was sie in diese Raserei versetzt hat. Berge von Zimsternen haben die Stadt Kiel unter sich begraben und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die ganze Welt der Herrschaft des Weihnachtsgebäcks unterworfen ist. Ich sehe, dass ich diesen Angriff niemals werde überleben können, und beschließe, meinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Niemals werde ich den Zimtsterntod sterben! Hoch erhobenen Hauptes greife ich ein letztes Mal in den Schrank und greife zu meiner Waffe. Und wenn sie irgendwann meine Wohnung durchsuchen, werden sie mich finden und alle Welt wird wissen, das ich mich den Zimtsternen bis zu meinem letzten Atemzug widersetzt habe. Sie werden es erkennen an dem Marzipanstollen, der aus meinem Mund ragt.

Und die Buba? Ja, in der Tat, sie hat das Gebäckdesaster überlebt. Tagelang hat sie gegenan gefressen, bis die unerbittliche Wut der Kekse sich gelegt hatte. Doch letztlich zeitigt eine solche Katastrophe totale Zerstörung, und auch die Buba fiel dem Schock ihres Lebens zum Opfer... am Tag, als sie auf die Waage trat.

post scriptum: Sorry, aber manchmal packt mich der Schalk und ich muss solchen Unsinn schreiben. Wer mehr davon möchte, darf gern einmal hier nachschauen - Schnellkasse 2 - Die Kontrollwaage schlägt zurück, Im Auge des Sturms, Entschleunigung, Expeditionen ins Badreich.

Montag, 17. Oktober 2016

Eine Kapsel


Vor einigen Monaten habe ich in unserem Treppenhaus auf dem Fußboden diese Kapsel gefunden, ein bisschen eingedellt, aber ungeöffnet. Kein Blister, keine Medikamentenschachtel in der Nähe zu finden. Diese Kapsel bewahre ich bei mir auf als Anschauungsmaterial - ein wunderbares Stück! Und ich benutze sie, um ein ganz normales Verhalten bei Abhängigkeit zu beschreiben. Vor einiger Zeit habe ich einen Beitrag geschrieben über Hänschen, der psychisch abhängig ist. Ich habe erwähnt, dass es im Bereich des Möglichen liegt, dass Hänschen unter dem Einfluss seines starken Craving (Verlangen) durchaus zur Beschaffungskriminalität greift.

Eine weitere Situation könnte jene sein: Hänschen findet diese Kapsel. Er nimmt sie in die Hand, schüttelt sie; er kennt sich mit Medikamenten aus und erkennt am Klang, dass es sich hierbei um eine Retardkapsel handelt: Sie ist mit kleinen Kügelchen gefüllt, die sich im Körper erst nach und nach auflösen sollen. Mit Pulver gefüllte Kapseln geben selten ein Geräusch beim Schütteln ab.

Hänschen wird aufmerksam: Ob es vielleicht ein retardiertes Schmerzmittel ist? Ein starkes Opiat, wie es auch das Heroin ist, das er normalerweise konsumiert? Im schlimmsten Fall schluckt Hänschen die Kapsel direkt und wartet ab. Hoffentlich tut er das nicht, denn mit Safer Use hat das nicht viel zu tun. Das kann gefährlich sein und sogar tödlich enden - wenn zum Beispiel eine gefährliche Überdosis einer Substanz in der Kapsel enthalten ist.

Im besten Fall geht Hänschen zu einem Drugchecking - er lässt den Inhalt der Kapsel chemisch analysieren, denn zum Glück gibt es bei ihm in der Nähe die Möglichkeit dazu. Drugchecking ist eine der hilfreichsten Unterstützungen in der niederschwelligen Drogenarbeit, befindet sich aber leider in einer rechtlichen Grauzone, da auch illegale Substanzen getestet werden. Deswegen werden Drugchecking-Angebote häufig von der Polizei unterbunden - auf Kosten der Gesundheit der Konsumenten.

Da Hänschen aber in Medikamenten bewandert ist, hat er sich einen Zugang zur Gelben Liste beschafft, einem Medikamentenkompendium in Deutschland. Dort gibt es ein Programm, mit dessen Hilfe er die Kapsel identifizieren lassen kann; er gibt die Farbkombination, Form und Art des Medikaments ein und findet heraus, dass mehrere Hersteller in solchen Kapseln den Wirkstoff Methylphenidat (MPH) vertreiben, sehr bekannt unter dem Markennamen Ritalin. So weiß Hänschen jetzt immerhin mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, was in der Kapsel enthalten ist, weiß auch die genaue Dosis. Und da MPH missbrauchsfähig ist, gönnt er sich das Medikament an diesem Abend. Leider.


Für Safer Use gilt:

Hänschen sollte nichts konsumieren, von dem er nicht zu 100% weiß, was es ist. Lieber sollte er sich einen netten Rausch entgehen lassen, als dass er vielleicht irgendwann in der Notaufnahme wieder aufwacht. 

Falls überhaupt.

Sonntag, 16. Oktober 2016

Immersion - Das Boot (1981)


Alles dreht sich um Immersion. Lasst uns eintauchen in dieses Thema!

Und wir sind damit schon beim Wortursprung gelandet, nämlich dem lateinischen Verb immergere, das soviel bedeutet wie "eintauchen", "verschmelzen". Immersion ist der Versuch, den Rezipienten z.B. von Kunst mit dem Kunstwerk verschmelzen zu lassen, ihm das Gefühl zu geben, dass er Teil des Werkes wird. Ein konkretes Beispiel habe ich gestern im Heimkino genossen, den Director's Cut von Das Boot (1981).

Wolfgang Petersens Kriegsdrama - Suspense - Dokumentation - Reisetagebuch - wie möchte man es denn nun nennen? Jedenfalls ist es eine Lehrstunde in Filmtechnik und Filmkunst. Was gezeigt wird, ist Alltag im Jahr Neunzehnhunderteinundvierzig, eine deutsche U-Boot-Patrouille während des Zweiten Weltkrieges. Also eigentlich gar nichts Besonderes für die Menschen "da oben", die nicht an Bord sind. Die die Missionen verteilen und mehr nicht. Aber für die Besatzung des Bootes U-96 ist dies "eine Reise bis ans Ende des Verstandes" (wie es in der damaligen Tagline des Films heißt).

Über Wolfgang Petersen kann man lästern. Man kann sich beschweren, dass er jeglichen Ereignissen seinen eigenen Stempel aufdrückt, indem er sie erst implodieren, dann explodieren lässt, sie in Dimensionen verschiebt, ein paar Naturkatastrophen drüber hinweg jagt und noch eine Armee außerirdischer Raumschiffe vorbeifliegen lässt. Jeder professionelle Pyrotechniker freut sich, wenn Petersen wieder ans Werk geht, denn er scheint kein Mensch der stillen Töne zu sein. Das hat ihm auch der Verfasser der Romanvorlage, Lothar-Günther Buchheim, vorgeworfen, der von der Verfilmung seines Werks sehr enttäuscht gewesen sein soll. Da trifft amerikanisches Filmspektakel auf Popcorn-Kino, alles auf Kosten des Realismus, so sollen die Vorwürfe geklungen haben.

In der Tat, Petersen lässt Welten untergehen, amerikanische Weiße Häuser explodieren oder ein U-Boot versenken, und das macht er mit viel Getöse und, in diesem Fall, mit sehr viel Wasser. Wer das nicht mag, soll sich halt keinen Petersen-Film anschauen. Wer sich aber doch darauf einlässt, der wird mit Das Boot reichlich belohnt, auf vielerlei Ebenen.

Allein zwei Szenen spielen außerhalb des Bootes, das Auslaufen im Hafen La Rochelle (Abweichung von der Romanvorlage, aber - im Ernst - lassen wir uns davon aus der Ruhe bringen? Wir sind erstmal froh, eine Koje im Bauch des stählernen Grabes ergattert zu haben) und eine spätere Szene, in der nachgetankt und Reserven aufgefüllt werden. Ansonsten befinden wir uns unentwegt in der Enge des Bootes oder auf der Brücke. Petersen wechselt nicht die Fronten, er zeigt das Geschehen nie aus Feindessicht. Immer setzt er den Zuschauer direkt in die Crew, gerade um diesen Immersionseffekt zu erreichen, dass man sich beim Anschauen nämlich fühlt, als sei man einer dieser durchgeschwitzten, verwundeten, verdreckten, gelangweilten, auf Entzug gesetzten, halb wahnsinnigen Seeleute.

Und es wird sehr dreckig. So muss es auch sein: Es ist ein Kriegsfilm. Und zwar ein deutscher; bei einem amerikanischen wie z.B. Pearl Harbor (soviel zum Thema Popcorn, und dazu bitte mit Käsesauce überbackene Nachos) geht man von einer siegreichen Schlacht aus, und am Ende stehen der All American Hero und seine blondes Tittengehoppel strahlend vor einem Sonnenuntergang. Hier nicht. Nichtmal im Ansatz. Das Urteil, das der Film über Krieg fällt, ist vernichtend. Und richtig, und daher wichtig.

Wer hin und wieder gern deutsche Filme sieht, wird viele bekannte Gesichter an Bord treffen, so finden sich da unter anderem ein junger Herbert Grönemeyer, Uwe Ochsenknecht und viele weitere unter der Leitung von Jürgen Prochnow wieder, der einen phänomenalen Job abliefert, kein Wort mehr als nötig bringt und jedem erleichterten Aufatmen besondere Bedeutung gibt. Generell habe ich an den schauspielerischen Leistungen nichts auszusetzen. Ich glaube diesen Menschen, was sie da tun. Ich nehme ihnen die Anstrengung, die Verzweiflung, die Monotonie ab, all das wird überzeugend dargestellt. Die soliden Darstellungen der Schauspieler werden unterstützt von Licht, Sound und Musik, die hier wie ein professionelles Uhrwerk ineinander greifen.

Das häufige Umschalten der Bootsbeleuchtung von weiß zu blau zu rot zieht sich wie ein Leitmotiv durch den ganzen Film, und jede Beleuchtungsfarbe hat ihre eigene Atmosphäre. Richtig gut ausgeleuchtet sind in diesem Film nur jene oben erwähnten zwei Szenen, die außerhalb des Bootes spielen. Und wenn die Bootsbeleuchtung mal nicht ausreicht, werden Taschenlampen gezückt. Viele Unannehmlichkeiten der Reise, zum Beispiel schlecht versorgte Wunden, Infektionen oder hygienische Probleme, werden dadurch eher angedeutet als gezeigt und spiegeln auf diese Weise wider, wie unangenehm die Thematik ist. Wer den Film also des Abends oder Nachts schaut und jegliche Lichtquellen abschaltet, wird belohnt mit viel Dunkelheit - ein weiterer Faktor, der zum Immersionseffekt beiträgt.

Der Sound. Wenn man Wolfgang Petersen glauben darf, dann ist der Director's Cut tatsächlich die Version, die er dem Publikum darbieten wollte. Bild- und Tonqualität wurden hier drastisch aufgewertet und gründlich auf 5.1-Sound abgemischt, was bei einem Film dieser Art unabdingbar ist: Wer erreichen will, dass der Zuschauer sich als Teil der Crew fühlt, der muss es nicht nur vor ihm krachen lassen: Hinter sich hört er das Seufzen des Stahls, der unter dem Wasserdruck nachgibt. Hinten rechts hört er die Flüstereien der Crew. Links neben sich hört er das Blubbern des Wassers, vorne rechts hört er die Maschinen arbeiten. Und in einer besonders angespannten Szene hört er überall um sich herum das Ping des Sonars, als die Feinde Jagd auf U-96 machen. Komplette Stille, nur die eisernen Blicke der Crew und ab und an ein Ping...
Ich möchte an dieser Stelle also eindringlich klarmachen, dass dieser Film mit Surroundsound geschaut werden sollte. Wenn ein Film so sehr von Effekten abhängt wie Das Boot, dann muss man ihm die Möglichkeit geben, diese Effekte auszuspielen. Gerade in der Stille des Ozeans, auf dem Meeresgrund bei Gibraltar, trägt jedes einzelne Geräusch dazu bei, die Nerven der Crew und des Zuschauers einer Zerreißprobe zu unterziehen (das gilt natürlich eher weniger bei Zuschauern, die sich von Effekten unbeeindruckt zeigen, nicht wahr, meine Liebe?).

Und zuletzt die Musik. Das Hauptthema des Films dürfte den Kindern der Achtziger und Neunziger bekannt sein, nicht zuletzt durch Alex Christensens Remix, der damals durch die Charts geisterte. Während in der ersten Stunde die dramatische Streichermelodie noch etwas unpassend zu sein scheint - unpassend zu den Außenaufnahmen des Bootes, das bei recht gutem Wetter durch das Meer gleitet - so wirkt dasselbe Thema nach und nach immer unheilvoller, je mehr sich die Lage der U-96 verschlechtert, je düsterer das Wetter wird, je zermürbter die Crew ist. Irgendwann geht dem Zuschauer jeder Einsatz des Themas unter die Haut, und diese Wirkung habe ich ab der Hälfte des Filmes sehr genossen. Klaus Doldinger hat hier als Komponist großartige Arbeit geleistet.

Wie also oben erwähnt, greifen die schauspielerischen Leistungen, die Ausleuchtung, der Sound und die Musik überzeugend ineinander, um einen Kriegsfilm zu erschaffen, der eigentlich gar nicht vom Krieg handelt, sondern davon, was er mit Menschen anstellen kann. Ein psychologisches Drama, das von seinen intensiven Effekten getragen wird.

Ich kann keine allgemeine Empfehlung aussprechen für Leser des Buches, die von Buchheims Werk begeistert sind und nun einmal sehen wollen, wie die Verfilmung gelungen ist. Nicht nur, weil ich das Buch selbst nicht gelesen habe und damit meine Einschätzung jeder Grundlage entbehrte, sondern weil ich über die konträren Reaktionen von Autor und Publikum dem Film gegenüber gelesen habe. Wie oben beschrieben war Buchheim zutiefst enttäuscht von der Umsetzung seines Romans. Wie oben beschrieben gilt Das Boot als eines der besten Werke deutscher Filmgeschichte. Die einzige Mahnung, die ich dazu abgeben kann, ist, sich nicht die "originale" 149-Minuten-Kinofassung anzuschauen. Erst ab 208 Minuten im Director's Cut wird man ansatzweise angemessen auf die Reise mitgenommen, da sind sich viele Kritiker einig. Und mit vernünftigem Surround-Sound wird es erst richtig ungemütlich; einem Petersen-Film, der von Effekten lebt, darf man nicht mit mangelhafter Technik-Ausstattung die Lebensgrundlage entziehen. Das ist, als würde man anstelle der echten Mona Lisa einen Schwarzweiß-Abdruck in der Tageszeitung betrachten: Die Wirkung ist einfach nicht dieselbe. Stendhal (manch einem besser bekannt unter seinem richtigen Namen Marie-Henri Beyle) konnte ein Lied davon singen.

Gute Reise!