Sonntag, 28. Juni 2020
Seelenstriptease: Passing Gas
Dieser Beitrag ist auf so viele Arten unangenehm. Nicht nur, dass es um körperlich und seelisch unangenehme Erlebnisse geht. Unangenehm, davon zum ersten Mal öffentlich zu erzählen. Unangenehm, die richtigen Worte zu finden. Unangenehm der Gedanke, Leser damit abzuschrecken. Aber es geht um ein wichtiges Thema, das ich drei Jahrzehnte mit mir herumgetragen habe und ich entnehme der Literatur, dass das durchaus etwas mit dem Asperger-Syndrom zu tun haben könnte.
Für Kleinkinder ist es wichtig, dass sie das Konzept des Bäuerchen quasi erlernen. Über die Schulter gelegt, ein paarmal auf den Rücken geklopft, bis das kleine Hüpfelchen endlich aufstößt. Das ist wichtig, denn durch die Verarbeitung von Nahrung in unserem Magen entstehen mitunter Gase - bei Erbsen, Bohnen und Linsen zum Beispiel etwas mehr, wie Ihr sicherlich schon einmal erlebt habt. Diese Gase befinden sich im Körper und sie müssen irgendwie heraus, sonst kann es zu unangenehmen Blähungen kommen. Wenn Ihr nicht wisst, wie unangenehm das sein kann, dann beneide ich Euch darum. Im Englischen nennt man diesen Vorgang passing gas - diese Gase durch den Körper nach draußen zu befördern.
Denn ich kann auch nach knapp siebenunddreißig Jahren nicht rülpsen - zumindest nicht bewusst. Ich weiß nicht, wie das geht. Alle drei bis vier Jahre passiert das mal unkontrolliert. Ich fand es schon als Kind immer blöd, wenn mein Körper unangenehm irgendwelche Geräusche machte, und das kam nicht selten vor, wenn man bedenkt, dass ich nur selten an's Essen gedacht habe und dass das Magenknurren an der Tagesordnung war. Sobald ich merkte, dass es wieder einmal soweit war, habe ich mich zusammengekrümmt, um das irgendwie zu unterdrücken. Heute weiß ich, dass Essen etwas genützt hätte. Damals wusste ich nicht, was "Hunger" bedeutet.
Genauso habe ich mich dann verhalten, wenn nach dem Essen irgendein Geblubber von meinem Magen her kam. Immer wieder zusammenkrümmen, den Magen verkrampfen, das Geräusch irgendwie unterdrücken. Heute weiß ich, dass in solchen Situationen Rülpsen eine der einfachsten Möglichkeiten ist, das Problem loszuwerden - oder eben einfach auf Toilette zu gehen.
Das war damals nicht so einfach. Ich wollte an fremden Orten nicht auf die Toilette gehen. Mein Schulklo damals habe ich in neun Jahren Gymnasium nur zweimal von innen gesehen. Weil ich nicht auf's Klo gehen kann, wenn ich nicht sicher sein kann, dass niemand kommt und mich drängelt. Der Kopf also mal wieder - und somit bin ich auch an langen Schultagen nicht ein einziges Mal auf's Klo gegangen. Ihr könnt Euch vorstellen, dass Klassenfahrten für mich der absolute Horror waren. Auf langen Busfahrten habe ich mitunter stundenlang meinen Körper irgendwie verkrampft, um das Gefühl zu unterdrücken. Und dabei versucht, andere Geräusche zu machen, die lauter sind.
Kurzum: Ich hatte dank meines Kopfes extreme Verdauungsprobleme. Und das lässt sich nach all' den Jahrzehnten nicht so einfach abstellen: Noch immer gehe ich an fremden Orten nicht auf's Klo - no way! Ich brauche dazu einen vertrauten Ort, an dem ich sicher sein kann, dass niemand stört. Bleibt nur noch meine Wohnung. In Freizeitparks (wenn ich nicht allein hingehe) und auch an Unterrichtsvormittagen gehe ich nicht auf's Klo, einfach aus Angst.
Hinzu kommt, dass es gesellschaftlich zwar nicht anerkannt ist, zu rülpsen, aber es ist bei Weitem nicht so verpönt, wie zu pupsen - Schüler stürzen sich mit "Freude" und lauter "Anerkennung" darauf, wenn das irgendjemandem im Unterricht passiert. Daraus habe ich mitbekpommen (ich lasse diesen Tippfehler drin, damit die große Buba etwas zu schmunzeln hat), dass ich also nicht rülpsen kann und nicht pupsen darf. Ist schon bemerkenswert, was für Fesseln unsere Gesellschaft einigen ihrer Mitglieder auferlegt.
Heute weiß ich, dass es für diese Fälle Simethicon gibt (Lefax und deutlich günstigere Generika) - einen physikalischen Wirkstoff, der Gasbläschen im Körper auflöst und dabei völlig unschädlich ist und auch nicht überdosiert werden kann - deswegen wird er auch schon bei Kleinkindern mit diesen Problemen eingesetzt. Seit ein paar Jahren habe ich das immer in ausreichender Menge in meinem Apothekerschrank vorrätig und auch immer in meiner Schultasche dabei - denn ich möchte meinen Mitmenschen auf keinen Fall lästig werden. Lieber gehe ich das Risiko von Magenkrämpfen, Verstopfungen und Depressionen ein, so wie früher.
Vielleicht ist es jetzt klarer, warum das ein unangenehmes Thema für mich war - und immer noch ist. Ich habe bisher erst einen Menschen getroffen, der darüber damals ganz offen gesprochen hat und aufgeschlossen damit umgegangen ist, weil er das gleiche Problem hat. Ich hätte mir daran ein Vorbild nehmen sollen, aber damals war ich immer noch auf der Schiene, dass ich um jeden Preis normal sein muss.
Übrigens ist das auch der Hauptgrund, warum ich nie einschlafen konnte, wenn ein anderer Mensch mit im Raum war: Die Angst, dass mein Körper im Schlaf irgendwelche unkontrollierten Geräusche von sich gibt, sei es nun durch Magenkrämpfe oder Schnarchen oder Reden im Schlaf. Ich habe so panische Angst davor bekommen, dass ich immer so lange wach geblieben bin, bis ich das Gefühl hatte, dass alle anderen im Raum schlafen. Dieses krampfartige Wachsein hatte ich zum Beispiel auch, als ich in die Vereinigten Staaten geflogen bin.
An Bord eines Flugzeuges auf Tiolette? No way, again, und deswegen esse ich auch gar nicht erst etwas, damit ich nicht auf's Klo muss. Dieses Herumdrücken und Verkrampfen hat dazu geführt, dass ich in meinem Hotel in Mason, Ohio, bei der Ankunft in's Bett gefallen bin und sechsunddreißig Stunden durchgeschlafen habe, was den ersten Tag meiner Planung gekickt hat. Hat eine Weile gedauert, nach dem Aufwachen, zu realisieren, dass ein ganzer Tag plötzlich weg ist. So erlebt man was ;-)
Mich hat das alles besonders in meiner Kindheit und Jugend ziemlich fertig gemacht, und ich habe nie darüber reden wollen, sondern das alles versucht, geheim zu behalten, nett zu lächeln und zu sagen, dass alles okay sei. Und weil ich früh method acting gelernt habe, hat man mir das meistens auch abgenommen.
Es ist echt ziemlich scheiße, was für Erwartungen unsere Gesellschaft an ihre Mitglieder stellt - ohne sie direkt auszusprechen. Ich habe jetzt mittlerweile auf über fünfhundert Seiten gelesen, dass Aspis immer wieder Angst haben, ihr ganzes Leben lang, und ich habe immer gedacht, dass das unnormal ist, und dass ich das verschweigen muss. Und jetzt weiß ich, dass das fast allen Aspis so geht.
Mein Erziehungsauftrag als Lehrer: Den Schülern Aufgeschlossenheit beizubringen gegenüber Menschen mit Problemen. Und sich nicht darüber lustig zu machen, wie es immer noch in über achtzig Prozent der Klassen (die ich bisher unterrichtet habe) der Fall ist.
Fuck You, engstirnige, heteronormative, gesundheitsbesessene Gesellschaft.
post scriptum: Falls Ihr Fragen habt, dürft Ihr gern schreiben!
Liebe Eltern, Ihr müsst Euch keine Sorgen machen. Mittlerweile kann ich mit dem Thema gut umgehen, ich habe gelernt, welche Situationen ich vermeiden muss und welche Strategien ich anwenden kann (zum Beispiel das Simethicon), und welche Menschen ich besser vermeiden sollte. Und mir geht es jetzt noch besser, wo ich das Ganze einmal loswerden konnte.
Danke für Euer (aller) Verständnis!
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