Mittwoch, 22. April 2020

Denken in Extremen


Wer aufmerksam mitgelesen hat, der wird gemerkt haben, dass sich die letzten beiden Beiträge über Visuelles Denken und Eingeschränkte Interessen um klassische Merkmale von Menschen mit dem Asperger-Syndrom gedreht haben, und ich habe versucht aufzuzeigen, inwiefern das auf mich zutreffen könnte. Heute geht es damit weiter, und vermutlich wird sich auch der nächste Beitrag noch einmal um Aspi-Symptome drehen. Vielleicht schreibe ich das einfach nur als Reaktion auf die Aspi-Bücher, die ich gerade lese, und in denen ich mich ziemlich gut wiederfinden kann. Keine Sorge, bald kommt auch wieder der ganz normale Wahnsinn an Blogthemen.

Ich bin nicht wirklich kompromissfähig. Das habe ich spätestens in der Saturnaliengruppe gemerkt; ich habe über die Jahre sehr viele Beiträge für das Theater geschrieben, der Großteil davon (zum Glück) unveröffentlicht. Gerade in den späteren Jahren habe ich dazu tendiert, Sketche zu umfangreich zu schreiben, zu viele Informationen, damit das Ganze "rund" wird. So hatte ich nach dem Schlussstrich zwar das Gefühl, ein fertiges Ding abgeliefert zu haben, aber für die praktische Umsetzung auf der Bühne waren die Sachen einfach zu lang, Lachfrequenz zu gering, zu sachlich.

Ich habe mich immer wieder mit der Frage konfrontiert gesehen, ob ich Sketche kürzen könnte, damit sie vielleicht doch auf die Bühne gebracht werden könnten. Ich konnte mich nie dazu durchringen: Ganz oder gar nicht. Und auf diese Weise sind viele Beiträge auf meiner Festplatte verstaubt. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie der Beitrag mit ein paar Kürzungen immer noch das sein konnte, was ich auf die Bühne bringen wollte.

Dieses Schwarz-Weiß-Denken, das Denken in Extremen, zeigt sich auch in einer anderen Anekdote.

Im Studium ist es oft vorgekommen, dass ich Gespräche immer wieder auf mich gelenkt habe, und das hat oft gar nicht so lang gedauert. Entweder ging es in meinen Beiträgen um mich oder um die Themen, die mich interessierten. Selten habe ich ernsthaftes Interesse für die Anderen gezeigt - ich habe einfach nicht daran gedacht. Es ging nur um das neue Buch, das ich gerade entdeckt hatte, oder um den neuen Film oder welches Problem mich gerade beschäftigte. Die Egozentrik ist für Aspis ein ganzes Kapitel für sich - darum geht es heute aber nicht.

Irgendwann bin ich auf diesen Umstand angesprochen worden. Ich habe nicht mehr den genauen Wortlaut zur Hand, und ich weiß nicht mehr, wer das war, nur, dass es mindestens zweimal von unterschiedlicher Seite gekommen ist: "Bei dir dreht sich alles nur um dein Thema." Ich wurde völlig aus der Bahn geworfen. Was? Machte ich das tatsächlich, immer nur von mir und meinen Themen zu reden? Und je mehr ich darüber nachdachte, umso stärker schwante mir, dass da etwas dran ist.

Also beschloss ich, gar nicht mehr zu reden. Auf diese Weise könnte ich auch nichts Falsches mehr sagen. Die Menschen, die mir nahe stehen, die Sannitanic und die große Buba, können bestätigen, dass ich heutzutage viel weniger rede als noch im Studium, sondern eher zuhöre. Selektiver Mutismus, das "bewusste Schweigen", ist ein klassisches Phänomen bei Aspis (unter anderem auch bei Greta Thunberg) und resultiert aus dem Denken in Extremen: Wenn ich etwas sage, dann ist es falsch, also sage ich gar nichts mehr.

Dass man auch abstufen könnte - weniger zu reden, oder anders zu reden - kommt mir dabei nicht in den Sinn, denn ich bin von diesem Schwarzweißdenken geprägt. Ganz oder gar nicht. Das ist auch etwas, was ich mir bisher nicht abtrainieren konnte (oder wollte). Nachdem nun aber jedes der Aspibücher, die ich lese, auf dieses Phänomen verweist, frage ich mich, ob es überhaupt möglich ist, das abzutrainieren. Die Bücher postulieren, dass es geht, aber es gehört sehr viel Training dazu.

Der Umstand, dass Aspis gern allein sind, trägt leider nicht zur Verbesserung bei: Wenn ich allein bin, muss ich nicht aufpassen, was ich sage, und muss mich nicht anpassen. Das ist mir am liebsten, am bequemsten, aber gleichzeitig habe ich auf diese Weise kaum interaktionelle Trainingschancen, dieses extreme Denken zu überwinden.

Ist das nachvollziehbar?

Allein dieser Ausdruck "interaktionelle Trainingschancen"... da isser wieder, der arrogante, überhebliche Klugscheißer. Das führt zu dem nächsten Aspi-Symptom - aber das kommt im nächsten Beitrag. Danke für's Zuhören Släsch Mitlesen!

post scriptum: Das dritte Buch zu diesem Thema gefällt mir bisher am besten, weil es ein schön übersichtliches, geordnetes Handbuch ist - Tony Attwoods "The Complete Guide to Asperger's Syndrome". Dort werden nicht nur alle Symptomatiken beleuchtet, sondern auch die Frage beantwortet, warum man sich überhaupt eine Diagnose einholen sollte. Und diese Antwort werde ich jetzt jedem um die Ohren hauen, der mich fragt, warum ich denn unbedingt eine Diagnose haben will. ;-)

paulo post scriptum: Nachdem die Netflix-Serie "Tiger King" von den Kritikern so hoch gelobt wurde, musste ich herausfinden, warum das so ist. Ich bin jetzt mit der dritten Folge (von insgesamt acht) durch, und es spricht einfach so viele verschiedene Gefühle an, den Tiger King mit seinem Ehemann zu sehen, die Beziehungen zwischen Menschen und Großkatzen, aber auch die kriminellen Machenschaften - auch seitens der Tier"retter"; die dritte Folge bietet Stoff für einen Thriller, das war heute richtig spannend. Ich werde mir das definitiv weiter anschauen ;-)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen