Sonntag, 26. August 2018

Schall und Rauch

Manches bedarf keiner Worte...

Was wäre, wenn ich nicht mehr sprechen könnte? Was wäre, wenn ich nicht mehr sprechen dürfte? Könnte ich es damit aushalten?

Ich liebe Science Fiction. Sie beschäftigt sich mit allen möglichen Was wäre, wenn-Fragen, schon seit den Anfängen jeglicher Form von Literatur. Nicolai Klimii Iter Subterraneum (1741) von Ludvig Holberg handelt von einer Reise in eine Welt unter- bzw. innerhalb unserer eigenen. Fritz Langs Metropolis (1927) erzählt von einer hochtechnologisierten Stadt und einer unterirdischen Arbeiterstadt, George Orwells Nineteen Eighty-Four (1948) erzählt von einem vollkommen überwachten Leben, Ridley Scotts Blade Runner (1982) beschäftigt sich mit dem Thema künstliches Leben (wie übrigens auch Metropolis). Immer geht es darum, eine Variation zu finden.

Eine Variation von unserem derzeitigen, "normalen" Leben, dessen wir vielleicht überdrüssig geworden sind, und das macht SciFi so interessant - dass uns eine Antwort geboten wird auf die Frage Was wäre, wenn...?

Ich konnte mich früher nie für das Genre begeistern. Das war mir zu unrealistisch; SciFi lebt davon, dass wir die uns dargebotenen Welten als möglich akzeptieren, und das wollte, oder konnte, ich damals nicht. Mittlerweile funktioniert das, und seitdem kann ich mich vollkommen auf einige der besten Geschichten einlassen, die die Literatur uns in Schrift und Film zu bieten hat.

Natürlich sind die dargebotenen Szenarien abgefahren. Doch gerade darin besteht der Reiz: Zu erleben, wie Menschen wohl damit umgehen würden, wenn diese Szenarien real wären. Und an dieser Stelle kehre ich zurück zum Einstieg: Was wäre, wenn wir nicht mehr sprechen dürften? Wenn jeder Laut, den wir zu viel machten, uns das Leben kosten könnte?

An dieser Stelle eine SPOILERwarnung: Es geht um den Film A Quiet Place (2018). Wer ihn noch sehen möchte, sollte vielleicht nicht weiterlesen, sondern sich auf einen sehr spannenden, originellen und inspirierenden Film einlassen, der wichtige Grundsatzfragen provoziert, zum Beispiel zur Bedeutung des gesprochenen Worts. Weit unten gibt es eine Spoiler-Entwarnung.

Und damit landen wir bei des Films Prämisse, herrlich indirekt eingeführt mittels einer schlichten Texttafel "Day 89": Wir erleben Kamerafahrten durch eine Stadt, die wie leergefegt wirkt. Menschenlose Straßen, leere Gebäude, Müll und Blätter pflastern die Straßen und Gehwege. Wir wissen, dass irgendwas passiert ist, und versuchen von nun an herauszufinden, was das wohl gewesen sein mag, und ob überhaupt noch jemand an diesem Ort lebt. Wir entdecken einen Supermarkt: eine fünfköpfige Familie schleicht zwischen den Regalen umher auf der Suche nach Medikamenten und elektrischen Bauteilen. Anhand ihres Verhaltens erkennen wir innerhalb der ersten paar Sekunden: Es scheint unglaublich wichtig zu sein, dass sie keinen Laut machen - daher gehen sie barfuß, daher geben sie sich Mühe, nichts fallen zu lassen, daher kommunizieren sie per Gebärdensprache (für den Zuschauer netterweise untertitelt: Der gesamte Film enthält so gut wie keinen gesprochenen Dialog) - auch für die ältere Tochter, die seit ihrer Geburt taub ist, wie wir per subjektiver Kamera erfahren. Nachdem sie mit ihrer Suche im Geschäft fertig sind, machen sie sich auf den Weg durch einen Wald - ein Weg, der sorgfältig mit feinem Sand ausgestreut ist. Sie wollen eine Brücke überqueren, als hinter ihnen, in ein paar Metern Entfernung, der vierjährige Sohn ein Elektrospielzeug einschaltet, das zu blinken beginnt und laute Geräusche von sich gibt. Der Vater erstarrt, läuft sofort in Richtung des Sohnes. Die Mutter bricht zusammen, hält erschrocken ihre Hände vor den Mund. Die taube Tochter sieht die Mienen ihrer Eltern, dreht sich um, sieht das blinkende Spielzeug und realisiert - das war laut. Zu laut. Und in der Entfernung beginnt es zu rascheln...

Ach klasse, hier kann ich noch einmal vor den SPOILERn warnen: Das war der Prolog des Films bis zur Einblendung des Titels. Noch könnt Ihr Euch entscheiden, diesen Film unvorbelastet anzusehen - ich werde jetzt etwas in's Detail gehen, um zu erklären, wie dieser Film es in seinem Genre in die Top Ten der Kritikerlisten bei rottentomatoes.com gebracht hat. Gönnt Euch diese nicht einmal neunzig Minuten und geht mit einem Hochgefühl aus dem Abspann heraus, um einen Kritiker zu zitieren. Denn ich komme jetzt in's Schwärmen. Unten gibt es eine Spoiler-Entwarnung.

Innerhalb der ersten fünfundvierzig Minuten werden wir in das Konzept der Geschichte eingeführt. Der jüngste Sohn kommt bei dem Vorfall an der Brücke um's Leben, der Hauptteil der Geschichte spielt allerdings über ein Jahr später. Durch indirekte Hinweise und häppchenweise präsentierte Puzzlestücke erfahren wir, dass außerirdische Kreaturen auf der Erde erschienen sind, deren Panzerung undurchdringlich ist, die keine Sichtorgane haben, dafür aber über ein hypersensitives Gehör verfügen, nach dem sie alles jagen, was Geräusche macht, die lauter als die Umgebungsgeräusche sind.

Auch wenn das vielleicht albern klingen mag, wird diese Was wäre wenn-Geschichte konsequent und absolut überzeugend umgesetzt: Wir sehen nicht viel von den Wesen in der ersten Hälfte des Films (Spielberg wusste, dass man den Weißen Hai bis zum letzten Akt geheim halten sollte, und auch Regisseur Krasinski befolgt diesen Rat), und es werden auch keine weiteren tödlichen Zwischenfälle gezeigt: Der Film spielt über vierhundert Tage nach der Ankunft der außerirdischen Wesen durch einen Meteoriteneinschlag, und es gibt kaum noch Überlebende im Umkreis der Familie - nur jene, die gelernt haben, sich anzupassen.

Und wie das geht, zeigt uns die erste Hälfte in warmen, emotionalen Sequenzen. Kommunikation per Gebärdensprache, Liebesbekundungen innerhalb der Familie ohne Worte. Die taube Tochter, die sich von ihrem Vater ungeliebt fühlt. Wie bereitet man Essen zu, ohne Laute zu produzieren? Wie lässt man seinem Kind Schulerziehung angedeihen, ohne zu sprechen? Wie verbringt man seine Freizeit? Wie geht man mit Schmerzen um? Und - wie findet man trotzdem Wege, um laut miteinander sprechen zu können? In aller Ruhe werden wir über eine Dreiviertelstunde lang in diesen Alltag eingeführt, und zwar auf eine Art, die nicht nur nicht langweilig ist, sondern uns zu einem Teil der Familie werden lässt. Wir fragen uns, wie wir selbst in gewissen Situationen handeln würden, und uns schwant Unheil, als wir realisieren, dass die Mutter im neunten Monat schwanger ist...

...und genau das ist der Punkt, an dem der Film die Gangart und das Genre wechselt. Von einem Science Fiction-Drama wechselt die Geschichte schlagartig in einen Horrorfilm. Bitte nicht abschrecken lassen: Es gibt kein Gesplatter, sondern in erster Linie nägelzerbeißende Suspense. Natürlich sind Schrecksekunden dabei, BOO-Momente, in denen man zusammenzuckt - ist logisch, wenn es immer still ist und dann plötzlich ein Geräusch erzeugt wirkt und man weiß, dass es die Kreaturen aufmerksam gemacht haben könnte. Natürlich beginnt der Genrewechsel, als eines Abends die Wehen der Mutter einsetzen und Geräusche absolut unvermeidlich scheinen.

Hier ist ENDE der wesentlichen SPOILER, es darf weitergelesen werden.

Von dieser Stelle an will ich tatsächlich nichts weiter zum Inhalt verraten, sondern kurz beschreiben, was der Film bei mir bewirkt hat. Klar, ich mag Horrorfilme. Aber in den letzten Jahren gab es eine ganze Menge Fließbandausstoß, Filme wie Insidious, Annabelle, Fortsetzungen eigentlich guter Filme wie The Conjuring, Paranormal Activity oder Sinister. Ziel dieser Filme ist es, Teenager in Angst und Schrecken zu versetzen und Geld in die Kassen zu spülen (die große Buba stirbt gerade), und das funktioniert auch. Aber, ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal denken würde: Ich hätte gern etwas Originelles, etwas Neues. Mittlerweile schaue ich viele Film, und den anderen Kram kenne ich schon, und ja, ich erschrecke mich, aber nein, diese Filme wirken kein bisschen nach. Doch aus unerwarteten Ecken kommen immer wieder Filme, die in meinem Kopf hängen bleiben, weil sie neue Wege gehen. So habe ich über Get Out (2017)The Babadook (2014) und It Follows (2014) geschrieben.

A Quiet Place schafft es, dass wir uns immer wieder fragen: Brauchen wir überhaupt gesprochene Wörter? Wie können wir noch ausdrücken, dass wir unser Kind lieben (was zu einer Szene führt, bei der ich tatsächlich Tränen in den Augen hatte, sehr schön)? Was bedeutet es, Eltern zu sein? Was bedeutet es, sich anzupassen?

Und der Film schafft es, einen sensationellen final shot hinzulegen; das hat Brian Tallerico in seiner Rezension erwähnt und das muss ich auch noch einmal bestätigen - denn ich wäre bei den Schlusscredits fast aufgestanden - klatschen musste ich definitiv, weil der Film an der perfekten Stelle endet, mit einer Geste und einem Geräusch, das wir schon unzählige Male in Filmen gesehen haben, aber hier wirkt es, hier sorgt es dafür, dass ich inspiriert und triumphierend aus einem Film in eine Meditation gegangen bin - ein Gefühl, das ich in dieser Intensität zuletzt bei Dark City (1998) hatte. Und ich liebe es, wenn ein Film mich wie einen intelligenten Zuschauer behandelt, ohne nervige oder künstliche Exposition, sondern mich selbst die Geschichte zusammensetzen lässt. Man nennt das wohl visual storytelling, das sich auf Einstellungen, Kamerafahrten, alles außer Dialoge verlässt, und das mag ich, weil so Vieles in meinem Kopf stattfinden kann.

Also, wenngleich nicht jeder ein Horrorfan sein mag: Dieser Film ist gleichzeitig eine großartige Science Fiction-Parabel über die Geräusche, die Lautstärke, die unser Leben ausmacht, und wie bereichernd es sein kann, still zu sein. Ich fühle mich durch diesen Film in meiner Vorstellungskraft bereichert, und das schaffen nicht viele Filme. Ein tolles Erlebnis, das ich mir heute nacht wahrscheinlich noch einmal geben werde, um einige Szenen etwas genauer zu betrachten. Wie schrieb einst Goethe?  

Worte sind nichts als Schall und Rauch...





post scriptum: Toll übrigens, dass der Regisseur für die ältere, taube Tochter eine taube Darstellerin gewählt hat - Millicent Simmonds - die mit knapp sechzehn Jahren eine beeindruckende Leistung darbietet. Und ich möchte nicht den Vergleich zu "Don't Breathe" (2016) außer Acht lassen, ein sehr effektiver Film, in dem es auch um den Hörsinn geht; wenn jener gut genannt wird, kann "A Quiet Place" getrost sehr gut genannt werden.

paulo post scriptum: Ach herrje, das ist jetzt ein relativ langer Text geworden. Signalisiert, dass ich wirklich begeistert von dem Film bin... klar könnte ich die Zeit auch nutzen, um meinen Unterricht vorzubereiten, aber es wird sich - hoffentlich - ein "Vier Tage Arbeit - Drei Tage frei"-Rhythmus einstellen, ähnlich wie damals in St.Peter-Ording, und das bedeutet, dass ich meine freien Tage auslebe. Und ich muss mich erst noch darauf umstellen, dass ich ja neuerdings den Montag frei habe. Klingt nach einer harmlosen Umstellung, aber für diesen Hochbegabten ist das ein ziemlich tiefer Einschnitt in eine jahrelang eingeübte Taktung...

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