Donnerstag, 14. Juni 2018
Zwei ungleiche Menschen
vorweg: Gründe für die Verzögerung dieses Beitrags gibt es mehrere - dazu aber morgen mehr.
Du gehörst nicht hierher.
Nein, du gehörst definitiv nicht hierher. Da stehst du nun, vor dem Eingang des Bürogebäudes, mit viel Glas und Architektur, und du als kleiner nonkonformistischer Gothic stehst da, schwarzes Shirt mit Totenköpfen, Hose mit Nieten und Ketten, in diesem Gebäude, das "wichtig" ausstrahlt. "Gehen sie durch die Drehtür", so hieß es in seiner Mail, und da fängt es schon wieder an. Du stehst vor dem Bürogebäude, an dem du schon unzählige Male vorbeigefahren bist, und vor dir diese Drehtür, die sich nicht dreht. Und du fragst Dich ernsthaft, ob du da überhaupt reinkommst. Ob du einen Schalter drücken musst. Ob sie vielleicht kaputt ist. Du bist wieder einmal genervt von deinem hochbegabten Gehirn, das sich ununterbrochen Gedanken macht und nicht mal eben Ruhe geben kann. Und du willst fast schon wieder umkehren, aber das geht nicht, denn dieser Termin ist dir wichtig. Er wird deinen Horizont erweitern - und so bringst du die Drehtür mit Bewegungsmelder hinter dich.
Viel Glas, und polierte Wände... ist das Granit? Du fühlst dich wie in einem Film, eines dieser Gebäude, wo unten eine Empfangsdame ist und oben die Herren in den Anzügen und mit dem Geld. Aber hier unten ist keine Empfangsdame. Gar keine Menschen. Und kein Müll, kein Makel, nichts, was nicht in diese Eingangshalle gehört. Und du? Kreideflecken auf deiner schwarzen Hose, die du schon so oft gewaschen hast, dass das Schwarz ausgeblichen ist und einen ganz anderen Ton hat als dein Shirt mit dem Totenkopf darauf. Die Schuhe gestern noch schnell poliert, damit es zumindest ein wenig glänzt, aber deswegen passt du noch lange nicht in diese Umgebung.
Okay, du sollst dich rechts halten, hat er geschrieben, und bei seiner Firma klingeln. Die Klingelknöpfe schüchtern dich nicht so sehr ein wie die Kamera, die dein Gesicht hoch in den fünften Stock transportiert, so dass du noch nicht einmal deinen Namen sagen musst, bevor die Tür vor dir per Summer geöffnet wird. Nun stehst du vor dem Fahrstuhl, und hinter dir versuchen zwei junge Damen, die Summertür aufzuschließen. Du könntest ihnen auch einfach von innen aufmachen, denn sie scheinen dazuzugehören, aber diese neuen Eindrücke beschäftigen dich so sehr, dass du bewegungslos wie gebannt auf die kleine leuchtende Anzeige am Fahrstuhl starrst.
Natürlich ist der Fahrstuhl sauber, mit einem eleganten Fußboden, und irgendwie passen deine schwarzen Sportschuhe nicht dazu. Die Totenköpfe an deiner Armbanduhr spiegeln sich in den Wänden, die jungen Damen fahren mit - sie in den vierten, du in den fünften Stock. Wirklich ganz oben, über den Dingen, und du fühlst dich an deine Wohnung im Studium erinnert - ein Ausblick, den du dein Leben lang nicht vergessen wirst, und der dir unglaublich gut getan hat.
Oben angekommen noch eine verschlossene Tür, das Logo seiner Firma ist zu sehen. Tief durchatmen. Was nun wohl kommt? Du drückst die Klingel und einen ganz kurzen Moment später öffnet dir eine gutaussehende, junge Sekretärin mit einem warmen Lächeln und einem "Ach, sie sind Dr Hilarius, richtig?" - noch bevor du dich selbst vorstellen und sagen kannst, dass du einen Termin bei'm Chef hast. Dir wird klar: Man hat dich erwartet, natürlich. Wenn jemand einen so vollen Terminplan hat wie ein Geschäftsführer, immer auf Achse, in ganz Deutschland unterwegs, und dir dann einen Termin gibt, kannst du sicher sein, dass er sich auf dich eingestellt hat.
Die junge Dame führt dich in einen Konferenzraum, während du nicht genug bekommst von den neuen Eindrücken. Die Büroräume sind hell, offen, von der prallen Nachmittagssonne abgewandt, angenehm klimatisiert. "Darf ich ihnen etwas anbieten, ein Getränk, Kaffee, Wasser?" fragt die junge Dame zuvorkommend und du fühlst dich ein bisschen überwältigt, denn auf dem großen Konferenztisch stehen bereits zwei sorgfältig vorbereitete Tabletts mit Getränkeflaschen und Gläsern. Schüchtern lehnst du das Angebot ab und suchst dir einen Sitzplatz, während sie sich mit einem "Er ist dann gleich bei ihnen" verabschiedet.
Und nun tief durchatmen. Oberste Etage. Die Außenwände aus Glas. Panoramablick über die Kieler Förde. Ein Teppich, der alle Geräusche schluckt, und extrem bequeme Stühle. Mehr als noch unten in der Eingangshalle fühlst du dich wieder wie in einem Film. Diesmal in einem dieser Apartments, von denen aus man ganz New York überblicken kann, und du magst dir gar nicht vorstellen, wie hoch wohl die Mieten für diese Räumlichkeiten sind. Mit Enthaltsamkeit könntest du dir vielleicht eine Zimmerecke leisten. Aber bevor Du diese Gedanken zu nahe an dich heranlässt, entscheidest du dich dafür, es zu genießen. Du nimmst einen Platz, von dem aus du über die gesamte Kieler Förde blicken kannst, und du fühlst dich irgendwie anders. Irgendwie frei.
Damals hättest du dich in einer solchen Situation nicht frei gefühlt. Du hättest dir ein anderes Outfit angezogen, etwas, das "anständiger" aussieht, immerhin sprichst du gleich mit einem wichtigen Menschen, und Du weißt, welchen Wert er auf ein gepflegtes Äußeres legt: Die Haare genau in Form gebracht, gründlich rasiert, und du hast dich damals schon gefragt, ob seine Anzüge maßgeschneidert sind. Du erinnerst dich, dass dir ein Detail in Erinnerung geblieben ist: Seine Anzüge sind elegant, konform, aber er hat eine Sache dabei, die einen eigenen Stil verrät, sei es nun das Einstecktuch oder die Krawatte. Damals hätte dich das alles unglaublich verschüchtert. Aber du lernst langsam, aufrecht zu gehen, ein Rückgrat zu haben und dich mit deiner ganz eigenen Ausstrahlung zu behaupten. Deswegen hattest du heute auch keine Angst davor, in deinem Gothic-Outfit in dieses elegante Gebäude mit den eleganten Schildern und eleganten Menschen zu gehen, mit den großen Fenstern und den teuren Teppichen. Im Gegenteil, du hast dich sehr auf dieses Treffen gefreut, schon seit Längerem, denn gerade weil das für dich eine Welt ist, die du nicht kennst, ist es ein Abenteuer, das dich bereichern wird, dessen bist du dir sicher, und ein Strahlen liegt auf deinem Gesicht, als sich die Tür öffnet.
Es entfaltet sich ein unglaublich entspanntes, befreites Gespräch. Es ist eine Szene, wie sie skurriller kaum sein könnte - da sitzt auf der einen Seite des Tischs ein Geschäftsmann, zwei Meter groß, perfekt gestylt, extrem höflich im Auftreten, und auf der anderen Seite sitzt ein Pädagoge, zwei Meter groß, schwarzes Outfit, Nieten, Ketten, unangepasst, und sie reden miteinander auf Augenhöhe, denn sie wissen beide, worauf es ankommt, und sie wissen beide, was unter dem Äußeren wirklich zählt. Sie sind so unterschiedlich, und doch eint sie der Wunsch nach Individualität und danach, sich selbst treu zu bleiben.
Du erzählst ihm etwas aus deinem Leben, denn ihr sprecht über Individualität und Konformismus, und auch wenn dich viele Menschen für einen arroganten, angepassten Büromenschen halten - hinter deinem Rücken würden sie dich als Lackaffen verunglimpfen - so bist du doch nur so weit angepasst, wie es das Geschäft erfordert. Du hast immer darauf geachtet, dir selbst treu zu bleiben, auch wenn es immer wieder eine Gratwanderung ist zwischen method acting und authentischer Individualität. Und dein Gesprächspartner scheint seine Individualität voll auszuleben. Das ist letztlich der Grund, warum er heute in deinem Büro sitzt.
Du hast schon mehrfach von ihm gehört, er ist immer wieder Gesprächsthema an seiner Schule, und es gibt nicht immer nur Positives zu berichten. Er trage immer nur schwarz, heißt es, und an jedem Kleidungsstück sei mindestens ein Totenkopf zu erkennen. Das macht den Kindern doch Angst, so sollte ein Lehrer nicht aussehen. Du warst dir sicher, dass er direkt von der Universität gekommen ist - und wohl immer noch auf der Suche nach seiner eigenen Identität. An der Schule kannte ihn binnen kurzer Zeit fast jeder und es wurde viel über ihn geredet. Du erinnerst dich, wie andere Eltern auf ihn reagiert hatten, nämlich mit Sorge, ob der auch ein vernünftiger Lehrer ist und nicht irgendein Hooligan, bei dem die Kinder nichts lernen. Gleichzeitig ist dein eigener Sohn irgendwie begeistert von ihm, und viele andere Schüler auch.
Du erinnerst dich noch gut, dass all' diese Eindrücke damals einfach nicht zusammengepasst haben, und du wolltest dir selbst ein Bild von dieser neuen Lehrkraft machen. Du wolltest dich nicht anstecken lassen von dem Vorverurteilen, denn du weißt genau, dass jeder Mensch an sich gut ist, und du möchtest diesen neuen Lehrer verstehen. Jetzt, in diesem Moment am Konferenztisch deines eigenen Büros, genauso wie damals, als du ihn zum ersten Mal in der Schule getroffen hast. Jenes Treffen war überhaupt erst der Anlass für das heutige Gespräch, denn du fandest diesen unkonventionellen Menschen interessant; so interessant, dass du dir damals ein paar Details aus seinem Leben gemerkt hast.
Du findest ihn noch immer interessant, er scheint intelligent und aufgeschlossen zu sein. Er würde sich vermutlich nicht zu den Menschen gesellen, die dich aufgrund deines äußeren Erscheinungsbildes in die Schublade Hochfinanz, Arroganz und Konsorten schieben. Davon gibt es genug. Und dir wird bewusst, dass ihr beide da eine gemeinsame Schnittmenge habt. So viele Menschen glauben, von eurem Äußeren auf den Menschen dahinter schließen zu können, und sie liegen alle falsch. Denn er ist kein asozialer Rocker, genauso wie du kein geschniegelter Lackaffe bist.
Die Zeit vergeht wie im Flug, eine Stunde, die sich wie zehn Minuten angefühlt hat. Beide Männer stehen auf, kaum ein Größenunterschied, und verlassen den Konferenzraum.
Es war für euch überhaupt kein Problem, das Eis zu brechen, schon nach fünf Minuten des Gesprächs hattet ihr eine offene, ehrliche Vertrauensbasis etabliert. Ihr habt dem Anderen gegenüber Respekt gezeigt, ihn ernstgenommen, ihn nicht auf sein Äußeres reduziert. Ihr geht den Büroflur hinunter, Richtung Fahrstuhl, und die Sekretärin schaut euch mit einem Schmunzeln hinterher. Sicherlich haben sich manche Menschen Gedanken gemacht, was wohl passieren würde, wenn ihr aufeinander trefft - unterschiedlich, wie ihr nun einmal seid. Und sicherlich hat kaum jemand mit diesem Resultat gerechnet:
Zwei Menschen verlassen das Bürogebäude. Beide zwei Meter groß, und sie könnten auf den ersten Blick nicht ungleicher sein. Sie sind ein hervorragendes Beispiel dafür, dass innere Werte zählen. Never judge a book by its cover. Ihre Wege trennen sich nun, aber sie freuen sich schon auf das nächste Gespräch.
post scriptum: Dieser Beitrag wurde von beiden beteiligten Personen freigegeben, es wurden weder Persönlichkeitsrechte noch Privatsphäre verletzt.
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