Sonntag, 9. April 2017

Freakshow

"Freak im Keller", by Dr Hilarius, 2004

Es war einmal...

Es war einmal zu einer Zeit, als nur Freaks das Fach Latein studierten. Für Normalsterbliche galt es als zu schwer, als ausgestorben, irrelevant, viel zu abgefahren. Damals gab es noch nicht einhundert, sondern fünfzehn Studierende pro Semester - wobei man munkelt, dass eine neue solche Ära hereinbricht.

Die Freaks lebten hoch oben, sie schwebten nicht nur intellektuell über den Wolken. Der fünfte Stock war ihr Zuhause, wo niemand sonst sich aus Versehen hin verirrte. Es sei denn, die armen Wesen mussten ihr Latinum oder Graecum nachholen - das waren die Phasen, in denen der Fahrstuhlknopf "5" regelmäßig ausgeleiert wurde - Phasen, in denen die Freaks in ihren Wohnungen blieben, denn Menschenkontakt war ihnen suspekt, sie blieben unter sich, sie wollten sich nicht den Blicken der Normalen aussetzen. Denn sie waren anders.

ER1 war sein Leben lang komisch gewesen. Freunde hatte er kaum, wozu auch, kam er doch allein gut zurecht. Ein Freak, wie er im Buche stand, ging er mit Kopftuch in die Universität und trug das ganze Jahr über Socken in Sandalen, auch im Winter, wenn es schneite. Irgendwann entschied er sich, das Kopftuch abzuwerfen, und es zeigte sich die äußerst ungewöhnliche Eigenart, mit den Jahreszeiten die Haarfarbe zu wechseln. Rot, Grün, Blau, Orange, Gelb, Schwarz, Violett, dazu trug ER1 Kriegsbemalung im Gesicht und sprach kaum mit anderen Menschen. Er war froh, wenn er in Ruhe gelassen wurde und die Normalen waren froh, wenn er sie nicht ansprach. Was er natürlich nie tat. Was sie nicht wussten: Er war hochintelligent, hoch sensibel, hatte ein Gespür für den Umgang mit Menschen - doch all das verbarg er hinter einer Maske aus Angst vor Zurückweisung.

SIE1 war ihr Leben lang komisch gewesen. Aufgewachsen in einer Familie, die sich nicht um sie kümmerte, die nicht ihre eigene zu sein schien, war sie immer nur ein Störenfried, nie tat sie das, was sie sollte, und wann immer sie es versuchte, machte sie es verkehrt. Niemand kümmerte sich um sie, Verwahrlosung war ihr ständiger jugendlicher Begleiter - und wenn sich jemand ihr zuwandte, dann nur, um ihr die Schuld an allem zu geben, was gerade nicht lief. Dadurch lernte sie, für sich selbst zu sorgen - sich nicht auf Andere verlassen zu müssen, und so trat sie in die Freakshow ein als selbständiges Wesen mit einem Panzer gegen Blicke, die zu tief in ihr Inneres schauen wollten. Ihr Freaksein versteckte sie - aber sie lebte von da an unter Freaks, die wussten, was es heißt, anders zu sein. Diese Freaks nahmen sie bei sich auf und gaben ihr ein Gefühl von Zugehörigkeit.

SIE2 hatte ein Rad ab, das war offensichtlich. Sie war ein Ausbund an Gesprächigkeit, umgab sich immer mit Menschen, sie lebte von Konversation, von guter Laune und Geselligkeit. Wer sich aber ernsthafter mit ihr beschäftigte, erkannte ihre freakige Seite: Sie neigte zu Gedankengängen und -sprüngen, die für manch' einen wenig nachvollziehbar schienen. Sie vereinte in ihrer Lebensweise Tradition und Moderne, ein scheinbarer Widerspruch für ihre Familie, aber nicht für sie, und manchmal kämpfte sie verzweifelt um Anerkennung für ihre Offenheit. Der Sprung in der Schüssel zeigte sich in ihrer Vorliebe für indisches Kino, indische Lebensweise, indisches Essen. Die Normalen fanden das nervig, die Filme zu lang, die Outfits zu bunt, die Songs zu kitschig. Für SIE2 war es die perfekte Möglichkeit, ihren eigenen Horizont zu erweitern. Die Normalen kamen gern zu ihr zum Feiern, weil sie immer für gute Stimmung sorgen konnte. Oft aber fragten sie sich, was mit ihr eigentlich nicht stimmt. Was sie nicht wussten: Sie war eine hochintelligente Frau, die auf ihr Herz hörte - doch hin und wieder interferierte ihr Gehirn, und das schien für manch' einen Außenstehenden nicht nachvollziehbar. Man schaute nur auf ihr Äußeres, man ließ sich durch ihr Verhalten irritieren - und erahnte das Potential dieser Frau nicht einmal im Ansatz. Vielleicht tat sie das selbst phasenweise nicht.

SIE3 hatte einen Knall, das war offensichtlich - denn wer studiert schon Latein UND Mathematik? Sie war unauffällig, in sich gekehrt, hatte eine ruhige Stimme, die sie nie in einer momentanen Stimmung erhob - denn die gab es bei ihr nicht, zumindest nicht sichtbar. Sie vermied es, im Mittelpunkt zu stehen. Sie war die Illustration des weiblichen Nerd, trug Pullis und Jeans - so unauffällig, dass sie fast schon normal wirkte. Aber wehe, wenn sie ein mathematisches Problem zu Gesicht bekam, dann fingen ihre Augen an, zu leuchten, dann verschmolzen ihre Gedanken mit dem Papier, das sie in der Hand hielt, dann blühte sie innerlich auf, dann wurde sie gesprächig. Den Normalen war das suspekt, aber da auch ihr zweites Studienfach einer Freakshow ähnelte, bekam kaum ein Normaler sie je zu Gesicht. Und wenn doch, dann gab es da etwas, was er bestimmt nicht wusste: SIE3 war einer der hilfsbereitesten Freaks, die je ein Student zu Gesicht bekommen hatte. Sie opferte sich für ihre Aufgaben auf, sie ließ niemals einen ihrer Mitfreaks im Stich. Man konnte sich immer auf sie verlassen, selbst wenn sie dadurch ihre eigenen Interessen zurückstellen musste. Sie teilte sogar ihr letztes Brot mit ER1 - und er hat ihr dafür niemals angemessen danken können.

ER2 kannte SIE3 gut, denn auch er studierte Mathematik und Latein. Als Pendant zu SIE3 personifizierte er den männlichen Nerd. Dazu kam eine seltsame Art, auf Witze zu reagieren: Manchmal kicherte er irre vor sich hin, oft aber reagierte er vollkommen sachlich und zerlegte den Witz in seine Bestandteile, um logische Irrtümer zu markieren. Das konnten Normale kaum verstehen, so konnte er manchmal als Spaßbremse wirken, und wenn er dann seinerseits einen Witz erzählte, war der überhaupt nicht lustig. Was sie nicht wussten: Er war für sie nicht lustig, weil er zu intelligent war, zu hoch, sie konnten ihn nichtmal ansatzweise verstehen. Weil auch er ein hochintelligenter Freak war, und weil er Autist war, reagierte er selbst auf Witze, die einer Logik entbehrten, oft sachlich und unbeeindruckt. Das wusste aber kaum jemand, und es war auch nicht schlimm, denn sie mochten ihn genau so, wie er war.

Und das hatte einen einfachen Grund: Sie alle waren Freaks, und manch' ein Normaler mied sie deswegen. Aber unter sich waren sie selbst die Normalen, denn sie kannte Ablehnung, sie kannten Unverständnis, und hatten deswegen gelernt, Menschen nicht nach ihrem Äußeren zu bewerten, auch nicht nach ihrem Verhalten. Sie hatten gelernt, in die Menschen hineinzuschauen und sie aufgrund ihres Wesens in ihr Herz zu schließen. Sie alle waren Freaks, sie waren merkwürdig, aber sie waren zu engen Freunden geworden, sie waren füreinander da, sie gingen zusammen durch ihr Studium.

Das alles war einmal zu einer Zeit, als nur Freaks das Fach Latein studierten. Das konnten die Normalen nicht verstehen, aber das mussten sie auch nicht, denn wer verirrte sich je in den fünften Stock?

Und sie waren keine Freaks, sie waren Menschen, und sie wussten, was Menschlichkeit bedeutet.

ER1 denkt gern an die Zeit zurück. Mittlerweile gehen sie ihre eigenen Wege, sie alle haben die Freakshow verlassen, sind ein wenig erwachsener geworden - und für Außenstehende vielleicht ein wenig normaler. Tief drinnen werden sie immer Freaks bleiben, und werden sich immer an die Phase der Freakshow zurückerinnern.

Es war eine tolle Zeit, Leute!

nomen amicitiae sic, quatenus expedit, haeret;
   calculus in tabula mobile ducit opus.
cum fortuna manet, vultum servatis, amici;
   cum cecidit, turpi vertitis ora fuga.
(...)

(Petron 80,9)

Armer Encolpius, aber auch Du solltest noch den Wert wahrer Freundschaft kennenlernen.

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