Donnerstag, 20. April 2017

Blick zurück ins Chaos

Heilung braucht Zeit. Genauso, wie auch der Hochbegabte für seine Gedankenwelt Zeit braucht.

Der gestrige Beitrag ist überdurchschnittlich oft angeklickt worden; vielleicht hängt es ja damit zusammen, dass es einen quasi-live-Einblick in das Seelenleben eines Hochbegabten in einer Krisensituation ermöglicht hat.

Vorgeschichte: Keep Your Fingers Crossed, A B CT - Eine Odyssee, Zahnprobleme etc., Gestern

Und nun blicke ich zurück auf die letzten achtundvierzig Stunden. Den gestrigen Beitrag hatte ich direkt nach meiner Rückkehr aus der Klinik geschrieben - verwirrt, unsicher und unglücklich. Und weil HBs ja so schnell denken können und zur drama queen neigen, ist es nach dem letzten Satz des Textes nur noch bergab gegangen. Wohlgemerkt: Das spielt sich alles nur im Kopf ab, das bekommt kein Außenstehender mit. In jenem Moment erzähle ich auch niemandem davon, sondern hadere allein mit meinen Gedanken. Tausend Szenarien, wie es wohl mit Dr K gelaufen wäre, allesamt besser als der tatsächliche Hergang. Mir wurde bewusst: Ich brauche die geistige Quarantäne. Ablenkung um jeden Preis, ergo habe ich die X-Files (Akte X) geschaut.

Die Serie hat mir sehr geholfen, denn die meisten Folgen sind intellektuell anspruchsvoll und ich mag es, z.B. die ganzen medizinischen Details zu verfolgen (Stellen, an der die große Buba abschaltet und nur noch Tetris-Musik hört). Das hat wie ein Rettungsanker gewirkt, für mein Gehirn, das ziellos umhergedriftete. Generell hilft es mir, in solchen Situationen (ich glaube, Panikattacken verlaufen recht ähnlich) etwas Vertrautes zu haben. Etwas, das ich kenne, worauf ich mich verlassen kann, irgendwas, das noch richtig funktioniert, nicht wie die Lubinusklinik, die mir plötzlich einen vollkommen fremden Arzt vorsetzt. Die Serienfolgen verlaufen immer nach dem gleichen Schema: In einem etwa fünfminütigen Teaser wird ein unerklärliches Phänomen gezeigt. Dann kommt das Intro, die bekannte Melodie, und dann werden nach und nach viele Teile des jeweiligen Puzzles an ihre Stelle gesetzt, so dass ich am Ende schlauer bin und dennoch genügend Denkstoff für danach vorhanden ist.

Eine Folge dauert etwa fünfundvierzig Minuten - genügend Zeit, um sich richtig fallenzulassen, um den Geist vollkommen in die Story eintauchen zu lassen. Manche sind so komplex, ein Paradies für mein Gehirn - und in jener Situation eigentlich als Antidot gegen die offenen Fragen gedacht, gegen die Unsicherheit aus der Klinik. Und dann hakt die Bluray, ausgerechnet an jenem Tag, und ich sehe sprunghafte Szenen aus der Folge, denke mir, nein, das will ich nicht, und suche die Folge online. Ich finde sie und sehe dort weiter, englisch mit türkischen Untertiteln. Klasse, so kann ich gleich ein paar Worte Türkisch lernen! Hilarius, achte mal auf die Untertitel und bringe sie mit dem in Einklang, was da gesagt wird. Mache ich - und bekomme nichts mehr von der Handlung mit. Auf einmal wird mir bewusst, dass ich jetzt fünf Minuten lang Türkisch gelernt habe, aber keine Ahnung habe, was gerade mit Scully und Mulder, den Protagonisten, passiert ist.

Scheiße, klappt denn heute überhaupt irgendwas? Das war der drama queen-Gedanke, der mich durch den späten Nachmittag getragen hat und mir den Tag effektiv versaut hat. Und ich bin dann von dieser Scheißsituation so sehr in Beschlag genommen, dass ich an nix Anderes mehr denke. Essen und Trinken? Brauche ich nicht, ist doch alles okay gerade (ich habe gestern und heute wieder sehr wenig gegessen). Mal der Sannitanic oder der Buba schreiben? Nein, oder wenn doch, dann nur kurze Andeutungen, die kennen mich ja so gut, dass sie gleich wissen, was los ist (nein, eben nicht, und ich versuche dann so viel wie möglich zu schreiben, damit sie Bescheid wissen - in solchen Momenten gehe ich wirklich davon aus, dass sie meine Gedanken lesen können!).

Und überhaupt bin ich in diesen Krisensituationen sehr impulsiv, so auch gestern. "Ich muss sofort mit Dr K reden, ruf' in der Klinik an!" (na, wer macht sich einen Reim aus dem Wechsel von 1. zur 2. Person?), "Schreib Dr K eine Mail mit allem, was du ihm sagen wolltest!", "Schreib der Sannitanic, dass du unbedingt mit ihr reden musst, Termin für morgen abmachen, sonst geht die Welt unter!", "Schreib der großen Buba, dass du sie unbedingt brauchst, aber erst später, und überhaupt." Diesen Impulsen nicht immer sofort nachzugeben, das muss ich erst noch lernen. So habe ich zwar (noch) keinen Gesprächstermin mit Dr K abgemacht, oder ihm einen Brief geschrieben, aber habe bei den Mädels Gesprächsbedarf angemeldet. Und dann fällt mir ein:

"Hilarius, denk' dran, HB, und auch die Autisten - die Welt geht gerade unter, überall bricht dir der Boden unter den Füßen weg, alles geht schief und nichts wird je so sein, wie es sein soll; in solchen Situationen hilft nur: KLARHEIT - SICHERHEIT - REGELMÄSSIGKEIT, und das Alles gern repetitiv."

Ich weiß, das klingt krank. Aber so ist es eben, es hilft mir, etwas "Normales" auszulösen, was auf jeden Fall klappt, was nach einem bestimmten Schema abläuft, wo mir nichts reinfunkt und meinen sicheren Plan stört. Und sei es, mich vor die Waschmaschine zu setzen, oder im gestrigen Fall, das Meditationsritual zu beginnen. Okay, ich lasse Badewasser ein - ich hab' doch am Tag davor gerade erst gebadet! - egal, das muss sein, dann wird der Körper warm, die Haut wird weich, das ist immer so, das wird klappen, und danach dann ganz sauber und rein und vor allem nackt, ohne Wäsche oder vor allem diese blöde Schiene am Finger - nur ich selbst, mein Körper und mein Geist, auf den gestärkten Handtüchern auf der Liegewiese. Hinlegen, dann die richtige Musik hören. Die habe ich doch schon jeden Tag gehört! Aber genau darum geht es ja, dass ich etwas habe, das ich wiedererkenne. Klarheit, Sicherheit, Regelmäßigkeit. Die Meditation dauert immer siebzig Minuten, genügend Zeit, um meinen Körper abzuschalten.

In diesem Zustand gibt es nur noch meinen Geist, der aufatmet, der sich von allen irdischen Fesseln befreit hat. Die Musik umspielt ihn von allen Seiten wie warme, weiche Tücher, ich kann alle Gedanken zulassen, es sind hunderte, und oft viele von ihnen gleichzeitig. Die anderen Sinne sind abgeschaltet, ich kann mich dem puren Intellekt vollkommen hingeben. Endlich habe ich ein wenig Ruhe. Endlich kann ich alles zurechtdenken und zurechtlegen. Mein Geist ist auf Wanderschaft, ganz entspannt, und endlich merke ich, dass die Situation nicht so schlimm ist. Endlich realisiere ich, dass meine Fingerwunde ganz planmäßig heilt, das ändert sich nicht, nur weil ein anderer Arzt jetzt die Fäden gezogen hat. Endlich realisiere ich, dass ich meine Mädels eigentlich gar nicht brauche, denn die Klarheit, Sicherheit, Regelmäßigkeit, die ich brauche, die habe ich gerade. Die bekomme ich jetzt. Und ich habe keinen Zeitdruck, Zeit existiert in meinem jetzigen Paradigma überhaupt nicht. Weder Zeit noch Ort, denn es ist nur mein Geist, und in jener Dimension ist das Raum-Zeit-Gefüge irrelevant. Es ist friedlich, es ist ruhig, es ist mir wohlgesonnen, endlich realisiere ich, dass die Dinge ihren gewohnten Gang gehen, endlich realisiere ich, dass da zwar ein anderer Arzt war, der keine Ahnung hatte, wer ich bin, und der sich kein bisschen für mich interessiert hat, aber "dass es in Ordnung ist, weil es nur darum ging, dass jemand mir die Schiene anmodelliert und mir klarmacht, wie ich mich verhalten soll."

Gut, ich realisiere jetzt auch endlich, dass Dr G, der Alternativarzt zwar nicht für Klarheit gesorgt hat, aber dass ich selbst alle Fäden in der Hand halte, dass ich immer noch Herr über meinen Geist bin und dass ich noch mit Dr K, meinem richtigen Arzt sprechen werde. Endlich erhalte ich die Seelenruhe, dass das Gespräch mit Dr K nicht eilig sein muss, und mich beruhigt die Sicherheit, dass es stattfinden wird. Egal wann (So wie mich auch die Sicherheit beruhigt, dass Er noch da ist, wenn auch nicht hier bei mir).

Mir wird bewusst, dass die Meditationen mir wirklich helfen können. Auch wenn es bedeutet, dass ich dafür sehr viel Zeit brauche. Auch wenn es bedeutet, dass meine Mitmenschen mich dann in Ruhe lassen müssen und unter Umständen lange nichts von mir hören. Auch wenn es bedeutet, dass ich psychoaktive Substanzen konsumiere, um das Tor zur "reinen Intellektualität" zu öffnen und diese Reise angenehm zu gestalten.

Denn ich weiß, dass es okay ist.
Und meine wahren Freunde wissen das, denn für sie bin ich okay, so wie ich bin.



post scriptum: Puh... der Text ist abgefahrener geworden, als ich es eigentlich beabsichtigt hatte. Ich wollte Euch nicht mit meinen kranken, komischen, ungewöhnlichen Gedanken zuspammen. Das wollte ich nie, ich habe über dreißig Jahre lang geübt, das alles schön für mich zu behalten. Aber... vielleicht ist es besser, sich ab und an zu öffnen.

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