Originaltext: Manchmal bietet sich der Jahreswechsel an, um einen Blick auf das hinter einem liegende Jahr zu werfen. Diesmal halte ich es nach der Devise "Schaue niemals zurück - du ersparst dir den Blick in's Chaos." Zwanzig Dreiundzwanzig war für mich ein ziemlich mieses Jahr. Job und Zukunftsperspektive verloren, möglicherweise eine chronische Erkrankung dazugewonnen, noch immer kein Schwerbehindertenstatus, ich finde nicht viel Positives. Buddhismus würde mir in's Bewusstsein rufen, dass so ein blödes Jahr viel Gewinn im Lojong-Geistestraining gebracht hat. Ist auch so, und es entspannt sehr, ändert aber nichts an den kleinen Ungerechtigkeiten im Leben.
Also bleibt nur der Blick nach vorn, direkt geradeaus, und mit großen Schritten in den Januar zu gehen. Wichtige Gespräche stehen an, beruflich und ärztlich. Ich bin froh, dass ich bei alledem den Rückhalt meiner Familie und Freunde habe.
Und Berliner. Wie jedes Jahr zu Silvester habe ich mir ein Tablett bunt gemischt bestellt, allerdings keinen mit Senf. Den Senf esse ich dann lieber pur zum Abendessen - wobei, heute gibt es wieder Gemüsesuppe. Nach Würstchen mit Kartoffelsalat ist mir bewusst geworden, dass ich doch eher noch bei Schonkost bleiben sollte. Die fetten, süßen Berliner passen da natürlich nicht rein, aber ich lasse mir an diesem wichtigen Tag keine Freude nehmen.
Dieser Tag beginnt für mich immer am Vorabend, wenn die große Buba da ist, und wir irgendwann im Lauf des Abends uns gegenseitig briefen, wie wir Silvester so verbringen werden, denn sie weiß, dass ich an diesem Tag gern allein bin, ganz in meiner eigenen Welt, um mit dem Leben klarzukommen, wie es gerade ist.
...und das ist also die depressive Sichtweise auf dieses Silvester. Dann schalten wir die Atmosphäre doch mal eben um, wie Dario Argento in Suspiria, und schauen auf zwei feine Positivitäten. Da gab es ja schließlich doch was.
Vor ein paar Wochen ist nämlich Post angekommen, eine Bluray mit dem Film Hero. Ich war erstmal ein wenig verwirrt, hatte ich mir die bestellt? Hätte sein können, denn ich hatte gerade das wuxia-Filmgenre für mich entdeckt. Das sind Martial Arts-Filme, in denen es nicht um Kampf und Gewalt geht, sondern um Ästhetik. Da hat dann mit der Realität nicht mehr viel zu tun, aber das macht überhaupt nichts. Im Gegenteil: Wenn plötzlich zwei Kämpfer leichtfüßig über die Hausdächer springen und dazu wunderbare Musik erklingt, dann wirkt das surreal, wie ein Traum, und das kann man wunderbar genießen.
Andere Filme in dem Genre sind zum Beispiel Crouching Tiger, Hidden Dragon oder House of Flying Daggers. Die Story interessiert mich da eher wenig, da sind keine großen Überraschungen dabei, manchmal übertrieben klischeehaft, aber das Künstlerische der Kampfszenen geht nicht an mir vorbei. Aber hatte ich mir Hero bestellt? Ich wusste, dass ich ihn mal sehen wollte...
...und dann ist mir der Gedanke gekommen, dass die große Buba mir vielleicht ein kleines Geschenk gemacht hat, denn wir hatten uns kurz zuvor über wuxia unterhalten. So eine kleine unerwartete Überraschung ist etwas Tolles, nicht disruptiv, sondern auf meiner Wellenlänge, und deswegen finde ich die große Buba toll.
Und auch etwas Anderes hat mir Lächeln beschert - ich habe mir endlich mal die Geduld genommen, eine milde Brühe aufgesetzt und dann reichlich Gemüse hinein und eine Stunde lang ziehen lassen. Ich war hin und weg, als ich realisiert hatte, dass die Brühe das Aroma des Gemüses aufgenommen hatte; plötzlich schmeckte die ganz normale Brühe so wie früher bei Mama, und das war ein toller Genuss.
Normalerweise tendiere ich eher dazu, Gerichte zu überwürzen, und bereite eine Brühe eher kräftig zu. Diesmal habe ich bewusst einen Löffel weniger vom Brühenpulver genommen - nachwürzen kann man immer noch. Eine schöne Erkenntnis, die ich schon viel früher hätte haben können, wenn ich nicht immer darauf fixiert wäre, das Essen schnell und unkompliziert hinter mich zu bringen.
Silvester.
Fünfunddreißig Minuten nach Mitternacht, die Hamburger Chaussee kommt etwas zur Ruhe, hier und da donnert noch das Echo von Knallkörpern durch die Häuserzeilen. Römisches Licht, Goldregen, Silberfunken, Crackling, Vulkan, Heuler, Ufo, Bodenwirbel, Frosch, Teppich, Kanonenschlag, Kugelbombe, Fontänenbatterie. Ich kenne jeden einzelnen dieser Effekte, denn ich liebe Feuerwerk über alles, und schon als Kind habe ich mich intensiv mit den Feuerwerkskörpern auseinandergesetzt, bevor es dann an Silvester zur Zündung ging.
Natürlich bleibe ich über Mitternacht im Haus. Ich wohne einfache Lage, das lässt sich übersetzen nach "viele junge Menschen, die gern sehr viel trinken und ausgelassen feiern." Und in deren Händen das Feuerwerk eigentlich nichts zu suchen hat. Mich hat es früher tatsächlich persönlich verletzt, wenn jemand einen Feuerwerkskörper nicht genau nach Anleitung gezündet hat. Und was machen die Vollpfosten da unten?
Stecken die Raketen extra fest in den Boden, damit sie nicht abheben können und dann direkt auf Augenhöhe in alle Richtungen explodieren. Nicht einmal, sondern fünfmal, jedesmal begleitet vom Johlen (und was da noch so für Geräusche herauskommen) der jungen Männer. Rücksicht auf andere? Wozu, sollen die doch drinnen bleiben! So wie ich. Und dann stellen sie eine Batterie quer auf den Boden und die ganze Ladung knallt nicht nach oben, sondern nach vorn. Geil! Lass' ma' Krieg spielen! Und dann überrascht es mich auch nicht mehr, wenn die gleiche Gruppe es zu einer Challenge macht, Raketen so lange in der Hand zu behalten, bis sie losfliegen, und dann bekommen sie den Feuerstrahl des Treibsatzes in's Gesicht und drehen sich erschrocken weg. Egal, das war aufregend, machen wir noch ein... nein, viermal.
Es überrascht mich fast schon, dass der erste Polizeiwagen mit Sirene und Blaulicht erst zwanzig Minuten nach Mitternacht vorbeifährt. Normalerweise geht das schneller. Und natürlich wird auch der Einsatzwagen von den Leuten unten angegrölt.
Und trotzdem liebe ich Feuerwerk auch weiterhin, und das wird sich nie ändern. Es ist nur die Kombination aus Feuerwerk, Alkohol und Testosteron, die mich zum Kotzen bringt. Aber bloß nicht das Gras freigeben! :O Und wenn, dann bitte nur in einem um Jahre verzögerten Pilotprojekt.
Menschen sind unlogisch. Leider macht genau das ihren Reiz aus.
Und jetzt stelle ich mich an den Herd, denn es wird Zeit für's Abendessen. Wasser, Brühe, Gemüse, Fleischklößchen in einen Topf, lange ziehen lassen, Nudeln dazu, wunderbar.
Auch wenn viele es wohl anders sehen mögen: Den perfekten Jahreswechsel verbringe ich allein, in Ruhe, in vertrauter Umgebung, in meiner ganz eigenen Taktung. Und glücklich.
Die Würze im Leben: Manchmal vermissen wir sie, dabei liegt sie direkt vor unseren Augen, wir müssen sie nur sehen können.