Freitag, 22. September 2023

Tag 53 - Die Fragen

Gnôthi seautón, oder wie man so sagt...

"Und, haben sie sonst noch irgendwelche Fragen, zu unserer Schule, zur Stellenausschreibung?"

Für gewöhnlich endet auf diese Weise ein Auswahlgespräch für Planstellen. Im Referendariat wurde mir beigebracht, dass ich an dieser Stelle Interesse signalisieren soll, indem ich vorher gründlich die Schul-Homepage gelesen habe und mir zwei, drei Fragen zurechtgelegt habe. Habe ich immer gemacht. Hat nichts gebracht.

Damit ist jetzt Schluss.

Ich lege mir einen Fragenpool zurecht - welche Fragen ich daraus letztlich nehme, muss ich nochmal schauen. Was ich mit diesen Fragen erreichen will? Ich möchte mir einen Eindruck darüber verschaffen, ob diese Schule ein "passendes" Arbeitsumfeld für mich zu bieten hat. Gerade weil das in den letzten Jahren nicht immer der Fall war, nehme ich Fragen aus jenen Erfahrungen. Here goes:

1. "Haben sie (alle) mein Anschreiben gelesen?"

    Wer schon bei mehreren Auswahlgesprächen war, weiß vielleicht, dass das nicht immer der Fall ist - gerade wenn die Schule bereits einen Wunschkandidaten für die Stelle hat. Dann sind diese Auswahlgespräche nur eine Zeit verschwendende Farce. Ich hatte einmal diese Frage in die Runde gestellt und eine vielsagende Antwort bekommen: "Die Unterlagen sind allen Mitgliedern der Runde zugegangen." Ich hätte am liebsten direkt gesagt "Das war nicht meine Frage. Mir geht es darum, ob sie es gelesen haben". Ich hätte mir damals Zeit und Frust ersparen können.

2. "Haben sie derzeit oder früher schon einmal autistische Lehrkräfte gehabt?"

    Kann gut sein, dass hier nicht ehrlich geantwortet wird, beziehungsweise auf die Schweigepflicht verwiesen wird. Manche Aspis oder hochfunktionale AutistInnen möchten ihre Behinderung nicht nach draußen tragen, und dann hat der Dienstherr selbstverständlich die Pflicht, diese Information für sich zu behalten. Falls aber ein "ja" kommen sollte, könnte auf die nächste Frage bereits eine sehr aufgeschlossene Antwort folgen.

3. "Haben sie eine ungefähre Vorstellung, was es bedeuten kann, einen Autisten im Kollegium zu haben?"

    Hier erwarte ich einfach mal die Antwort "nein", und das wäre gut so, denn dann hätte ich einen Grund, um direkt in ein paar Schulalltagsszenarien überzuleiten. Naja, nicht direkt. Vorher würde ich ihnen einmal anschaulich erläutern, wie es ist, als Lehrer auf'm Spektrum zu sein.

4. "Angenommen, ich bitte sie, mich möglichst nicht in den Klassenstufen 5 und 6 einzusetzen (inklusive Erklärung). Ihre Reaktion?"

    Ich bin bereits mehrfach trotz der Erklärungen in die Orientierungsstufe gesetzt worden. Manchmal kam die Erklärung "Das geht so nicht, ich muss dich in allen Klassenstufen einsetzen können", und da mag etwas dran sein. Ich habe aber zumindest bezüglich der Konsequenzen vorgewarnt, und natürlich sind diese dann auch eingetreten, das ist immer nur eine Frage der Zeit.

5. "Angenommen, sie teilten mich trotzdem ausschließlich in den Stufen 5-7 ein. Ein paar Wochen später erhalten sie einen besorgten Anruf einer aufgebrachten Mutter, dass der neue Lehrer die Klasse völlig ohne Vorwarnung und ohne Grund so laut angeschrien hat, dass manche SchülerInnen davon Albträume bekommen haben. Wie gehen sie mit der Situation um?"

    Ganz realistisches Szenario, die meltdowns gerade bei männlichen Autisten sind bekannt und ein Grund für ihre oft mangelhafte soziale Integration in ihr Umfeld. Ist mir auch an früheren Schulen genau so passiert. Dass der Wutausbruch nicht grundlos war, kann man sich denken; ich schreie nicht herum, weil es mir Spaß macht, im Gegenteil, ich bekomme eine Panikattacke, zerbreche dabei Stifte, fange an zu zittern und bin einmal mit Tränen in den Augen Richtung Toiletten gestürmt, um mich wieder zu fangen.

In einem Fall wurde ich nicht gefragt, wie meine Sichtweise zu diesem Vorfall ist (so eine Anhörung oder Stellungnahme ist eigentlich im Konfliktmanagement selbstverständlich). Auf die Frage, warum ich nicht meinen Blickwinkel schildern durfte, hieß es dann wörtlich "Weil ich davon ausgehe, dass du mich eh' anlügen wirst." Danke für das entgegen gebrachte Vertrauen, einer Person gegenüber, die in Stressituationen gar nicht anders kann, als die Wahrheit zu sagen.

In einem anderen Fall habe ich genau auf diese "Vorwarnungen" verwiesen, über die ich bei Auswahl- und Einstellungsgespräch gesprochen habe, und auf meine autistischen Verhaltensweisen. Das war bei jener Schulleitung, die damals zur Begrüßung meinte "Wenn wir schon Inklusion leben sollen, dann gilt das selbstverständlich auch für das Kollegium". Da bekam ich als Reaktion nur "Ja, aber so geht das nicht, da musst du dich schon etwas anpassen".

6. "In jeder Konferenz - LeKo, ZK, alles, was so anstehen kann - sitze ich im Konferenzraum auf dem gleichen Platz, irgendwo am Rand oder in der Ecke, und arbeite in einem Rätselheft. Ihre Reaktion?"

    Die Schulleitungen hatten damit bisher kein Problem, denn ich hatte ihnen vorher erklärt, dass ich das zur Beruhigung mache (stimming) und trotzdem alles mitbekomme. An einer ehemaligen Schule ist es allerdings zu Beschwerden anderer KollegInnen darüber gekommen, und darüber, dass ich mich ja durch meinen Sitzplatz in der Ecke vom Rest des Kollegiums abgrenze und das etwas unsozial wirkt, und dass es dann ja auch kein Wunder sei, dass ich Probleme habe, die richtige Schule für mich zu finden.

Wie ich es mache, mache ich es verkehrt: Wenn ich das Kollegium nicht über meine autistischen Verhaltensweisen aufkläre, kommt es zu Beschwerden, und wenn ich es doch tue, kommt es zu Beschwerden, dass ich mich unnötig wichtig machen will. Alles gehabt, deswegen bin ich mit dieser Frage tatsächlich auf die Reaktion gespannt. 

7. "Angenommen, nach zwei Jahren an ihrer Schule bekommen sie einen Anruf einer verstörten Mutter, die fragt, wie es sein kann, dass einer der beliebtesten Lehrer der Schule sich so einen Aussetzer leisten kann - denn in der sechsten Klasse habe er zwischendurch gesagt, Schüler XY stelle sich bestimmt gerade vor, wie es ist, in den Arsch gefickt zu werden. Wie gehen sie mit der Situation um?"

    Ja, vorgekommen. Begründung eine Mischung aus meltdown und Schlagfertigkeit, das war ein Konter auf etwas, was XY davor gesagt hat, und ich habe mich seines Wortlauts bedient. Interessant, ich realisiere gerade, dass ich hier im Blog bisher noch nicht darüber geschrieben zu haben scheine. Zur Info: Das Ganze hat ein Dienstgespräch nach sich gezogen, Anwesende waren die Schulleitung, Elternbeiratsvorsitzende, Heimleitung, Klassenlehrer, Schulsozialpädagogin, eine(r) fehlt noch, wir waren zu siebt.

Natürlich darf ich nicht darüber sprechen, wie das Gespräch abgelaufen ist. Ich darf nur sagen, dass wir am Ende allesamt sehr erleichtert rausgegangen sind und die SozPäd mich einmal in den Arm genommen hat; dass mich die Heimleiterin dann einen Tag in ihr Heim eingeladen hatte und, wie sie danach zu einem ihrer Jugendlichen sagte, ein "ganz tolles Gespräch mit einem ungewöhnlichen Lehrer" hatte.

Ich warte nur darauf, dass irgendwann jemand sagt, dass diese Szenarien doch insgesamt recht unrealistisch seien. Steilvorlage, und vielleicht könnte das eben auch ein bisschen die Antwort zur dritten Frage liefern.

8. "Angenommen, jemand berichtet ihnen, ich würde mich privat mit meinen SchülerInnen treffen. Ihre Reaktion?"

    Vorgekommen, und die direkte Reaktion damals war eine dienstliche Abmahnung, in der es hieß, private Treffen mit Schülern (sic) seien in Zukunft zu unterlassen. Und ich Idiot hab' das auch noch so unterschrieben, weil ich deutlich jünger und dünnfelliger war - dabei habe ich mich noch nie privat mit meinen SchülerInnen getroffen. Es gibt eben auch negative Publicity, wenn man bei seiner SchülerInnenschaft gut ankommt, und auch hier würde - meiner Meinung nach - eine gute Schulleitung zuerst um eine Stellungnahme meinerseits bitten (wie das zum Beispiel bei dem vorherigen Fall geschehen ist).

9. "Ihnen kommt zu Ohren, dass der neue Lehrer mit seiner siebten Klasse jede Woche nur Filme schaut. Wie gehen sie damit um?"

    Ich mache kein Geheimnis daraus, dass ich gern mit Filmen oder Serien im Unterricht arbeite, und ich habe hier auch schon mehrfach darüber geschrieben. Ich glaube auch weiterhin, dass das mit der richtigen Lerngruppe ein fruchtbarer Versuch ist. Ich lasse mir aber nicht unterstellen, ich würde in jeder einzelnen Englischstunde meine SchülerInnen vor eine DVD setzen und mir einen faulen Lenz machen. Leider kommt dieser Eindruck dabei rüber, nicht selten, und sorgt auch nicht selten für deutliche Beschwerden bei der Schulleitung und auf Elternsprechtagen. Auf letzteren allerdings habe ich in der Regel mehr Elternteile, die mir mitteilen, dass sie das gut finden, und dass ihr Kind richtig begeistert ist und von sich aus im Internet auf Englisch weiterschaut. Und das erkläre ich auch gern jeder Schulleitung, die das denn hören möchte, und auf das obige Gerücht (9.) zumindest erstmal eine Stellungnahme hören möchte, bevor sie mir eine Abmahnung schreibt (auch passiert).

10. "Ich führe einen Blog. Wie stehen sie dazu?"

    Scheint wie eine kleine, harmlose Frage, ist aber extrem wichtig. Der einfachste Weg für die Lehrkraft wäre, einhergehend mit der Entfristung den Blog einzustellen, damit man keine Risiken eingeht. Das wird aber so nicht funktionieren.

Dieser Blog ist wie eine lifeline für mich. Er ist meine Verbindung zu Euch - Familie, Freunde, Bekannte - denn ich mag mich nun mal nicht so für eine kleine Plauderei verabreden. So würde man sich zwar häufiger sehen, aber so funktioniert der Kopf des Autisten nicht. Die Welt da draußen ist chaotisch und unberechenbar, und in meinen eigenen vier Wänden weiß ich genau, wie alles läuft. Dass alles läuft. Jeder Gang nach draußen birgt Konfliktpotential (Missverständnisse und so weiter, habe ich ja schon öfters drüber geschrieben).

Mit dem Blog kann ich Euch mitteilen, was mir gerade durch den Kopf geht, wie es mir geht, was ich mache, und ich kann es mit dem geduldigen "Papier" machen und muss mich nicht spontaner interpersoneller Kommunikation aussetzen. Klingt, als wollte ich Euch nicht sehen. Hart, aber wahr: Will ich auch nicht immer. Das war anders, als es mir noch gut ging - im Studium. Da war ich spontan mal mit YazzTazz los zu Burger King, oder da stand eines abends einfach mal ein Ole mit einer Weinflasche vor den Kronshagener Bergen. Damals hatte ich eine grundlegende Sicherheit, und die bedeutet für Menschen auf dem Spektrum wirklich alles.

Es ist für mich absolut unmöglich, mir vorzustellen, dass ich diesen Blog für eine Schule schließen müsste. Dann trete ich diese Stelle lieber nicht an. Es bleibt dabei, dass auf meiner Prioritätenliste im Leben der Beruf auf dem zweiten Platz steht. Mein eigenes Privatleben, oder öffentliches Leben, wie auch immer - das ist mir wichtiger. Ich habe - vorerst - nur dieses eine Leben, und das möchte ich genießen, und das lasse ich mir von niemandem mehr nehmen.

Auch wenn es Arbeitslosigkeit bedeutet. 

Aber der nächste Termin im Arbeitsamt steht bestimmt bald an, und dann sondieren wir mal.

post scriptum: Nochmal: Ich weiß nicht, welche von diesen Fragen ich tatsächlich benutze. Die Fragen 1-3 werden aber auf jeden Fall kommen, damit ich jeder Schulleitung die Möglichkeit geben kann, mir mitzuteilen, dass sie weiß, was es bedeutet, Autist zu sein, und falls nicht, dann werde ich sie unter 3. darüber erstmal gründlich aufklären, bevor es an die Fallstudien geht. Ich möchte niemanden überfordern oder vor den Kopf stoßen, aber ich möchte sichergehen, dass meine zukünftige Schule weiß, wen sie sich da in's Boot holt, und ich möchte zumindest eine ungefähre Vorstellung davon bekommen, wer mein zukünftiger Dienstherr ist, und wer meine Ansprechpartner in Sachen Gleichstellung sind.

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