Samstag, 11. März 2023

"Die mit den Tabletten."


"Wie geht es ihnen?"

Diese Frage hört man ja oft, von FreundInnen, KollegInnen, oft als Phrase, die gar nicht ernsthaft beantwortet werden soll, sondern einfach als Form der Höflichkeit gestellt wird. Wie das How do you do? im Englischen: Man lächelt und sagt nichts weiter, oder stellt maximal die gleiche Frage zurück. Man antwortet nicht ernsthaft auf die Frage. Als ich die Frage gestern gehört habe, musste ich überlegen: Wie ging es mir an diesem Tag mit meinem nächsten psychiatrischen Gespräch?

Freitag morgen, der Wecker soll um elf Uhr klingeln, damit mein Zeitplan rund ablaufen kann: Meine Sachen packen, die Anamnese- und Erstgespräch-Fragebögen ausfüllen, das "ertragreiche" Gutachten vom ZiP in Lübeck kopieren (ertragreich insofern, als dass es mich zur Weißglut gebracht hat und ich infolge dessen ein Jahr lang die ganze Fachliteratur zum Asperger-Syndrom gewälzt habe und dadurch letztlich den Mut aufbringen konnte, einen zweiten Diagnoseversuch zu starten). Den genauen Zugfahrplan heraussuchen, um meinen Termin um vierzehn Uhr zu erreichen, nochmals die Innenstadtkarte von Neumünster ausdrucken, mit dem Weg vom Bahnhof zum Krankenhaus markiert. Das richtige Outfit heraussuchen, Logiktrainer einpacken, Uhren und los. 

Allerdings bin um um halb zehn bereits gut erholt aufgewacht, habe überlegt, ob ich mich wieder hinlegen soll, um die Zeit bis zum Weckerklingeln zu überbrücken - eine reale Option für den Aspi, denn das war schließlich der Plan - aber bin dann einfach trotzdem aufgestanden. Wach werden, Nachrichten lesen, nochmal alle Fragebögen und das ZiP-Gutachten sichten und auf geht's. Gerade das Gutachten hat mich wieder ein wenig wütend gemacht, oder traurig oder verwirrt, weil es so gar nicht meinen Lebensalltag widerspiegelt.

Whatever, es ist kurz nach zwölf, um halb eins muss ich raus, um meinen Plan einzuhalten, der Zug fährt kurz nach eins vom Hauptbahnhof. Schlüssel in der Hosentasche, check, Rucksack gepackt, check, Portemonnaie, check, fünf vor halb, ab nach draußen. Schnell noch die Wohnung abschließen, zumindet bei längeren Aufenthalten außerhalb der Wohnung denke ich daran. Maaaaan, warum klemmt jetzt der Schlüssel, mach hinn... WTF?!!! Das ist nicht mein Ernst!

Ich erkenne den Achterbahnanhänger am Schlüsselbund, den ich von der Sannitanic bekommen habe, Shambhala im spanischen PortAventura, und den Anhänger Schlüssel des Erfolgs. Das ist mein Schulschlüssel, kein Wunder, dass der nicht passt, ich muss in der Eile auf die falsche Hosentasche geklopft haben, wandere mit der Hand zur anderen Hosentasche - aber da ist nur ein Lippenpflegestift.

Echt jetzt? Ich habe mich nach sieben Jahren zum ersten Mal aus meiner Wohnung ausgesperrt? Sämtliche Gedankenzüge entgleisen:

Scheiße, ich bin im Zeitplan, soll ich jetzt bei Vonovia anrufen, aber wie, ich habe ja kein Handy dabei, soll ich bei meinem Nachbarn klingeln, ob ich von dort aus anrufen kann? Aber dann bekomme ich meinen Zug nicht mehr, der in... achtundzwanzig Minuten fahren soll. Wie komme ich in meine Wohnung zurück? Verpasse ich jetzt gerade den Bus zum Bahnhof? Warte... du hast den Zweitschlüssel für die Wohnung bei den Eltern der großen Buba deponiert. Jetzt hinrennen? Wie lange dauert das, hin und dann zum Bahnhof weiter? Soll ich das jetzt machen oder lieber nach dem Arzttermin? Ich habe keine Ahnung, wie lange der dauern wird! Was, wenn nachher keine da ist? Wo soll ich mich aufhalten, bis sie zurückkomme? Und - die Hausschlüssel sind vor einer ganzen Weile mal ausgetauscht worden, hatte ich ihnen überhaupt den aktuellen Schlüssel gegeben? 

Shit, Stillstand nützt gerade gar nichts, ich kann im Moment nichts an der Lage ändern, also renne ich die Treppen runter, stehe unten an der Ampel, Zeiger auf fünfunddreißig, noch siebenundzwanzig Minuten Zeit, Mist, und ich muss ja auch noch die Zugfahrkarte besorgen. Scheiß drauf, ich renne jetzt zum Buba-Haus und versuche es zumindest einmal. Gesagt, getan, auf dem Weg renne ich fast ein paar SchülerInnen um, die auf ihrem Heimweg sind, und stehe dann vor der Haustür. Ohklott, war ich hier überhaupt schon einmal allein? Ich habe noch nie den Zweitschlüssel gebraucht, was sage ich, wer öffnet die Tür, öffnet überhaupt jemand? Erkennen sie mich wieder? Whatever, klingeln.

Und ein paar Momente später sehe ich einen Schatten hinter der Haustür. Ohklott, es könnte klappen, achtunddreißig, noch vierundzwanzig Minuten. Ich strahle die große Buba-Mama an und rattere die Situation im Stakkato herunter, und drei Minuten später verlasse ich mit meinem Ersatzschlüsselbund - an dem tatsächlich die neuen SchlüsselInnen (so würde Aristophanes es gemäß seiner Wolken bezeichnet haben) befestigt sind - renne zum Bus, und jetzt machen wir es kurz, sitze um drei Minuten nach zwei Uhr im Zug nach Neumünster. Wir rollen los, und ich kann endlich durchatmen, der Schock ist verarbeitet und ich bin gerade einfach nur dankbar. Das ist eine der Lojong-Losungen: Übe Dich darin, allen höchst dankbar zu sein.

Ich finde es bemerkenswert, wie wenig ich die passage of time bemerke, wenn ich mit meinem Psychiater spreche. Als ich wieder draußen war und auf dem Weg zum Bahnhof, zeigte mir eine Uhr an der Straße sechzehn Uhr fünfundvierzig an. Über zweieinhalb Stunden? Wo ist die Zeit hin? Was haben wir gemacht?

Einen Plan. Genaueres unterliegt der doctor-patient confidentiality, aber ich bin mit einem Plan im Kopf nach Hause gefahren, und das beruhigt - nicht ohne mir vorher den Arsch am Bahnhof abzufrieren, weil ich den Zug nach Kiel gerade verpasst hatte und der nächste bereits mit fünfzehn Minuten Verspätung angekündigt wurde.

Und nun ist es Samstag, und ich bewege diesen Plan noch immer in meinem Kopf, in all' seinen Variationen. Irgendwann berichte ich davon. Nicht jetzt, ich brauche selbst erstmal Zeit, mich auf was Neues einzustellen.

Kurz gesagt: Ich bin gespannt.

post scriptum: Ach ja, wie kam es zum Titel des Beitrags? Während unseres Gesprächs musste ich an eine Szene aus dem Studium denken, als ich eine Kommilitonin gefragt hatte, was der Unterschied zwischen einem Psychologen und einem Psychiater sei. Psychologen sind die, die reden, und Psychiater sind die mit den Tabletten. Klischee, aber mit einem Korn Wahrheit.

paulo post scriptum: Liebe Eltern, ich rufe morgen an, ich brauche noch Zeit zum Denken.

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