Dienstag, 29. September 2020

Erschießen oder vergasen - was Du willst.


Wir leben in einer Zeit, in der Skandale in der Politik ihre ursprüngliche Wirkung verloren haben. Wenn früher ein Parteifunktionär gesagt hätte, dass wir viele Zuwanderer brauchen, damit es Deutschland schlechter geht und die eigene Partei gut dasteht - man könne sie ja später immer noch erschießen, oder vergasen - hätte es einen Aufschrei gegeben und die Partei wäre in Verruf geraten.

Diese Aussage stammt von Christan Lüth, ehemaliger Pressesprecher der AfD, seit gestern aus der Partei gefeuert, nachdem auf Pro7 eine Reportage gezeigt wurde, in der jenes Interview ausgestrahlt wurde, in dem Lüth diese Worte gesagt hat. Hat diese ungeheuerliche Aussage irgendeine abschreckende Wirkung auf die AfD-Wähler?

Ich kann es mir nicht vorstellen. Gerade die radikaleren AfD-Wähler lieben ihre Partei genau für so markige Sprüche. Sie wollen das hören - Zuwanderer, die uns unsere Jobs klauen, unsere Frauen, die unsere Wirtschaft in den Dreck ziehen, all' so einen Schlonz. Sollte mich nicht wundern, wenn Lüth in der rechten Szene für das Interview gefeiert wird.

Oder schauen wir in die USA, wo nach langem Hin und Her endlich die Information an die Öffentlichkeit gedrungen ist, dass Donald Trump in den Jahren Zweitausendsechzehn und Zweitausendsiebzehn jeweils nur siebenhundertfünfzig Dollar an Bundeseinkommenssteuer gezahlt hat. Jeder papierlose Einwanderer, jeder Kellner mit Migrationshintergrund, hat mehr als zehnmal so viele Steuern gezahlt, rechnet Shooting Star Alexandria Ocasio-Cortez ("AOC") vor. 

Stört es irgendjemanden? Für Trump sind das alles natürlich wieder nur Fake News, und auch wenn man meinen sollte, dass diese Platte nach Jahren andauernder Wiederholung ausgeleiert ist, so geifert seine Anhängerschaft danach. Sie können nicht genug davon bekommen. "Grab 'em by the pussy"? Fake news. "Stormy Daniels"? Fake news. "No income taxes"? Fake news. Vetternwirtschaft bei der politischen Postenvergabe? Fake news.

Die Suche nach Wahrheit in der Politik scheint der Suche nach den spannendsten alternativen Fakten gewichen zu sein, ein Ausdruck, den Kellyanne Conway in einem Augenblick geistiger Umnachtung rausgehauen hat - und der sie zum Star der rechtskonservativen Szene Amerikas gemacht hat.

Wen interessiert schon die Wahrheit? Es wird mit Emotionen gehandelt, und Emotionen werden die USA-Wahl am dritten November entscheiden, genauso wie die Besetzung des freigewordenen Sitzes im Supreme Court. Wichtige, wegweisende und von der Mehrheit getragene Entscheidungen wie Roe v. Wade (das Gerichtsurteil für das Recht auf Abtreibung) können nach Lust und Laune gekippt werden. Das hat nichts mit der Mehrheit und deren Willen zu tun (denn die wird durch das electoral college untergraben). 

Es ist deprimierend. Und es ist abzusehen, dass es auch bei uns in diese Richtung geht, wenn Kommentare wie vom Erschießen oder Vergasen von Migranten unwidersprochen im Raum stehen können. Was wir tun können? Wir könnten unsere Mitmenschen auf ihre Ungeheuerlichkeit aufmerksam machen. Oder wir sitzen weiterhin faul vor dem Fernseher und echauffieren uns über "die Anderen".

Sorry for ranting. 

2 Kommentare:

  1. Trifft den Nerv der Zeit, leider. Kaum verständlich, dass die Wahrheit so an Relevanz verliert, wo doch jeder weiß, wo das hinführt. Ein friedvolles und positives Zusammenleben scheint wohl für einige einfach zu langweilig zu sein. Schade. Gelungener Beitrag!

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  2. Es ist beruhigend, zu sehen, dass auch andere Menschen sich dieser Entwicklung bewusst sind - wir müssen wirklich gegenan arbeiten...

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