Donnerstag, 29. Dezember 2022

Aufmerksamkeitsspanne (Die kleinen Freuden der Filmgenies)

Genau hinschauen!

Es ist wirklich nicht mehr ganz so einfach, Filmklassiker im Unterricht einzusetzen. Ein großer Teil der SchülerInnen hat im Vergleich zu früher eine deutlich kürzere Aufmerksamkeitsspanne; es fällt ihnen schwer, den roten Faden einer Szene zu behalten, in der nicht alle paar Momente etwas Aufregendes oder Auffälliges passiert. Kein Wunder - sie wachsen auf mit pop ups, TikTok, Video-im-Video, Nachrichten und Tweets im Sekundentakt. Das kann man lamentieren, würde ich auch gern, aber wir müssen uns dem wohl anpassen. Ich versuche es trotzdem gern immer wieder, aber ein paar der berühmteren Filmemacher werden ihnen nicht zugänglich sein.

Ich werde jedenfalls niemals versuchen, einen Film von Tarkovsky mit ihnen zu schauen (dabei sind sie faszinierend und bereichernd), und viele SchülerInnen sind bereits mit einer Episode der originalen Twilight Zone aus den Fünfzigern völlig überfordert. Da passiert nicht genug.

Ich denke mir immer, dass ich eine recht lange Aufmerksamkeitsspanne habe. Das ist relevant für die Untersuchung auf eine Autismus-Spektrums-Störung, ist aber auch hilfreich für Introspektion. In der richtigen Stimmung kann ich Tarkovsky genießen, seine Mischung aus Science Fiction und Philosophie. Ich mag Horrorfilme und psychologische Thriller aus der Kategorie slow burn - da passiert erstmal nicht viel, aber am Ende hat man einen ordentlichen payoff und der Film wirkt lange nach. 

Zwei Beispiele dafür von zwei extrem talentierten Regisseuren: Michael Haneke haben vielleicht einige von Euch schon gesehen, in Das weiße Band (2009) oder Funny Games (1997) oder Amour (2012). Einer seiner intensivsten - weil subtilsten - Filme ist Caché (2005). Da passiert erstmal auch nicht viel - die Atmosphäre macht den Film aus, und die unausgesprochenen psychologischen Spannungen zwischen den Eheleuten. 

Haneke hat sich in diesem Film allerdings etwas Besonderes überlegt, ein winziges Detail in der letzten Szene, das den gesamten Inhalt zuvor auf den Kopf stellen könnte - wenn man es denn findet. Ich habe es nicht gefunden, war nur durch eine Rezension und daraus folgender Diskussion darauf gestoßen. Ich mag eine lange Aufmerksamkeitsspanne haben, aber ich habe das vollkommen übersehen (ohne Spoiler: In der Szene treffen sich in einer Menschenmenge zwei Leute, die sich eigentlich gar nicht kennen dürften). Das Positive: Diese Kenntnis macht es zu einem besonderen Genuss, den Film mehrmals zu schauen, wie ich es mit ein paar Filmen gern mache.

Ein weiteres Beispiel dieser kleinen genialen Details von Meistern der Filmkunst ist mir gestern untergekommen - und deswegen auch dieser Beitrag -, in einem Film, den ich - wieder einmal nach Erkenntnis eines sehr wichtigen Details in der letzten Szene - dann nach der Meditation direkt ein zweites Mal geschaut habe. Kiyoshi Kurosawas Cure (1997) ist ein absolut faszinierender - man möchte mit Blick auf den Inhalt fast betörender Film sagen. Ebenfalls sehr subtil mit einem brillanten Sounddesign, das mich so intensiv "hypnotisiert" hat, dass ich in der letzten Einstellung dieses kleine Detail - hat mit einer Kellnerin zu tun - übersehen habe und mich gefragt habe, was diese letzte Szene wohl soll. Jetzt, mit neuem Hintergrundwissen, bin ich begeistert.

Wer weiß, vielleicht würden unsere heutigen Schüler diese Details eher bemerken, gerade weil sie sich nicht von einem slow burn einlullen lassen können.

Habt Ihr diese Beobachtungen hinsichtlich der Aufmrksamkeitsspanne auch schon einmal machen können, die große Buba und alle KollegInnen da draußen?

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