Montag, 11. Mai 2020

Theory of Mind - Bin ich empathiefähig?


Einer der Bereiche, die bei Testung auf eine Autismus-Spektrums-Störung abgeklopft werden, nennt sich Theory of Mind (ToM). Laut der Psychiaterin, die mich getestet hat, ist das die Fähigkeit, sich Geschichten auszudenken und sich andere Situationen vorzustellen als die, in der man gerade ist. Zitat: "Ich sehe da bei ihnen überhaupt keine Auffälligkeiten, sie konnten mir diese Bildergeschichte problemlos erklären und sie konnten auch so tun, als würden sie - hier in meinem Büro - in ihr Auto steigen." Ergebnis: Null Punkte in Sachen Auffälligkeiten bei ToM. Hab' ich so hingenommen; jetzt nicht mehr so sehr.

Ich lese zur Zeit The Complete Guide to Asperger's Syndrome (2007) von Tony Attwood, und ich werde daraus ein paar Passagen zitieren, die für mich sehr erhellend waren und das Gutachten der Ärztin in meinen Augen noch weiter in Zweifel ziehen.

"ToM means the ability to recognize and understand thoughts, beliefs, desires and intentions of other people in order to make sense of their behaviour (...) A synonymous term is empathy."

Okay, das hatte ich jetzt nicht so ganz erwartet. Denn damit bin ich wieder an einer meiner wiederkehrenden Überlegungen angekommen, nämlich, ob ich empathiefähig bin. Ich bin mir da nie sicher, aber die große Buba kann da Einiges bei mir finden. Und passenderweise schreibt Attwood dazu:

" [The person with AS] has immature or impaired ToM abilities or empathy, not an absence of empathy. To imply an absence of empathy would be a terrible insult to people with Asperger's Syndrome. (...) The person does care, very deeply, but may not be able to recognize the more subtle signals of emotional states or "read" complex mental states."

Darum ging es bei der Bildergeschichte (deren Testung übrigens laut Attwood für gewöhnlich nur bei Kindern und Jugendlichen zielführend ist) nicht. Auch nicht bei'm Autofahren. Das mag bei "herkömmlichen" Autisten noch einmal anders sein, aber es hieß auf meiner Überweisung ja explizit "V.a. Asperger-Syndrom, Diagnose erbeten".

"[These people] appear to engage in less eye contact than anticipated, tending to look at a person's face less often, and therefore missing changes of expression." - Zitat eines Aspis: "Why would I want to look at you when I know where you are?"

Einer der Faktoren in Sachen ToM ist laut Attwood also die Schwierigkeit, soziale/emotionale Nachrichten in jemandes Augen zu lesen. Im sogenannten Reading-Mind-in-the-Eyes-Test habe ich unterdurchschnittlich wenige Punkte erreicht (bzw. die genaue Durchschnittzahl bei Aspis), was für eine Auffälligkeit spricht. Ein weiterer Faktor ist genau dieses Wörtlichnehmen, mit dem ich öfters überfordert bin.

"Making a literal interpretation: One of the consequences of impaired or delayed ToM skills is a tendency to make a literal interpretation of what someone says."

Ebenfalls zur ToM gehört Verhalten, das als respekt- und rücksichtslos aufgefasst wird:

"...may not notice (...) the subtle cues that [others] are becoming annoyed with his or her egocentric or dominating behaviour or conversation."

Ich habe nie mitbekommen, wenn ich das Heft in irgendeiner Sache an mich gerissen habe, und ich habe auch nie mitbekommen, wenn ich jemandem mit meinen Gesprächsthemen auf die Nerven gegangen bin:


"...have a remarkable enthusiasm for their special interests. However, they may not recognize that other people do not share the same enthusiasm (...) and may not see or recognize the subtle signs of boredom."

Ich bin aus allen Wolken gefallen, als mir irgendwann endlich einmal gesagt wurde, dass ich Menschen damit auf die Nerven gehen kann (und das definitiv auch tue). Die Konsequenz daraus ist nun eben, dass ich in Gesprächen eigentlich kaum noch spreche, aus Angst, wieder zu langweilen. Klar ist das auch kein schöner Zustand, aber ich habe in meinem Kopf keinen Sinn für das richtige Maß, darüber hatte ich neulich auch geschrieben.

"Honesty and deception: Children and adults with Asperger's syndrome appear to have a greater allegiance to honesty and the truth than to the thoughts or feelings of others."

Besser könnte ich es gar nicht formulieren. Wenn ich daran denke, was Er sich von mir alles hat anhören müssen an unbequemen Dingen, weil ich dachte, dass es doch toll ist, wenn man Menschen auf ihre "Fehler" hinweist, damit sie daran arbeiten können. Auch die große Buba hat da was abbekommen; Attwood schreibt dazu noch:  

"The person with Asperger's syndrome can be very astute at identifying mistakes and can be very keen to point out another person's mistakes. The comments can be interpreted as deliberately critical and hostile, but the motivation of the person with Asperger's syndrome may have been to encourage perfection and to enlighten the other person about the error."

"Problem solving: When presented with a problem, seeking guidance from someone who probably knows what to do is usually not a first or even a second thought."

Volltreffer, ich habe das hier im Blog schon einmal beschrieben und es ist auch genau das, was mit meiner mündlichen Examensprüfung in Englisch passiert ist. Natürlich hätte ich mit meiner Prüferin abklären können, wie das alles ablaufen wird - aber nein. Ich komme nicht auf die Idee, um Hilfe zu fragen.

"Exhaustion: We know that the acquisition of ToM skills can be delayed in those with Asperger's syndrome, and that over time they can eventually achieve advanced ToM abilities. However, we also need to recognize the degree of mental effort required by people with Asperger's syndrome to process social information. (...) One of my clients has an excellent phrase to describe her exhaustion from socializing. She says, I'm all peopled out."

Diesen letzten Ausdruck muss ich mir unbedingt merken, denn das ist genau eines meiner Probleme - ich halte nicht so viele Menschen aus, und muss mich danach erstmal erholen, und das trifft auch enge Freunde.

All' diese Probleme, die auftreten können, stehen also in einem Zusammenhang mit einem ToM-Defizit - und dann sagt die Ärztin, der gegenüber ich mich zweimal eine Stunde lang "zu" normal verkauft habe, dass es in der Theory of Mind bei mir nun wirklich überhaupt keine Probleme gebe.

Langsam wird es Zeit für eine zweite professionelle Meinung.

post scriptum: Dieses Aspi-Handbuch ist echt großartig, es ist vollkommen übersichtlich, arbeitet alle Bereiche des AS ab, mit Symptomen und immer einer ganzen Reihe von Hilfen, Trainings und ähnlichem für Eltern, Lehrer und Mitmenschen. Ich bin begeistert.

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