Freitag, 7. Februar 2020

Vor Schülern stehen


Eigentlich sind sie alle irgendwie süß.

Aber warum gibt es an jeder Schule mindestens eine Klasse, die einen begrüßt mit "Ja, wir sind die Horrorklasse der Schule, da dürfen sie nicht allzu viel erwarten"? Es geht mir gar nicht um den Sachverhalt - wir alle kennen Klassen, die wirklich große Herausforderungen darstellen, laut, kriminell, Mobbing, gewaltbereit, you name it. Es geht mir darum, dass solch' einer Klasse der Eindruck vermittelt wird, sie seien der Horror. Das finde ich schade, denn ich habe die Erfahrung gemacht, dass einige Schüler dadurch das Vertrauen in das eigene Potential vollkommen verlieren und släsch oder sich in der Rolle als "Klassenaufreiber" noch bestärkt fühlen.

Denn eigentlich sind sie alle irgendwie süß, und ich finde, man merkt das dann immer wieder in Gesprächen unter vier Augen - für die wir Lehrkräfte im derzeitigen Bildungssystem eigentlich überhaupt keine Zeit mehr haben, denn wir sollen ja nicht mit der Stoffprogression hinterherhängen. Wenn mich jemand fragt, wie ich diese Woche mit meinem Stoff vorangekommen bin:



Und trotzdem. Dann sitzen da in der Klasse Schüler, erleben mich zum ersten Mal als Lehrer, stecken die Köpfe zusammen, tuscheln, einer läuft knallrot an, der andere sagt zu ihm deutlich hörbar "Frag ihn doch einfach!" - und keine Sorge, das fällt nicht unter die Verschwiegenheit, denn das kam bisher an jeder Schule innerhalb der ersten drei Wochen.
DrH: "Frag' doch einfach, das ist vollkommen in Ordnung!"
S: "Nee, ich mag nicht, ist schon gut" kicher rotwerd
DrH: "Dann nimm diesen Zettel und den Stift, und schreib' die Frage auf, dann ist es nicht so peinlich."
S: "Neeeee, das kann ich doch nicht machen..." schreibt WARUM auf "Ich möchte sie damit nicht beleidigen, und ich will nicht, dass sie dann böse sind, und ich will auch nicht respektlos sein..."
Shit. Ich bin gerade zu streng und laut geworden und jetzt sind erstmal alle Sicherheitsbarrieren hochgefahren, mein Fehler. Okay...
DrH: "Ehrenwort, du kannst alles fragen, das ist vollkommen okay, es gibt keine schlimmen Fragen und auch keine Minuspunkte dafür" lächelsofreundlichwienurmöglich
S schreibt die Frage auf, faltet den Zettel dreimal zusammen, schiebt ihn auf mein Pult, rennt sofort drei Reihen nach hinten und hält die Hände vor's Gesicht, Sitznachbarin rutscht näher heran, denn sie will das auch wissen. Und zwölf weitere Schüler auch, und so falte ich den Zettel auseinander...

"WARUM tragen sie nagellac?" 

...und ich muss schmunzeln, und dann erkläre ich ihnen das ganz in Ruhe und der Stress von vorher ist schon wieder weg, und vielleicht kriege ich sie dann ja doch noch, und ich mache ihnen klar, dass die Frage immer wieder kommt und das vollkommen klar geht, und dann fragen sie mich, ob ich ein E-Boy bin, und ich bin für den Begriff zu alt, bis ich merke, dass sie einfach "Emo" meinen, und erkläre ihnen, dass ich das zwar nicht bin, aber sage ihnen noch kurz was zur Schwarzen Szene, und einer fragt mich, ob ich The Prodigy höre, und ich erkläre, dass ich mit Songs wie "Firestarter" und "Smack My Bitch Up" aufgewachsen bin.

Es wird sicherlich etwas Zeit brauchen, aber ich habe das Gefühl, endlich wieder angekommen zu sein, wenn ich vor einer Klasse stehe, und ich nutze die ersten Stunden, um erstmal die vibes eines Kurses wahrzunehmen und mich darauf einzupendeln. Und dann geht es rund!

post scriptum: Interessant, ich habe Post von der Psychiatrie bekommen - Hausaufgaben! Diverse Testbögen, die ich zum nächsten Termin ausgefüllt mitbringen soll, und ich freu' mich irrerweise auch noch darauf, diese hunderte Fragen zu beantworten. ;-)

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