Freitag, 29. April 2022

Die Angelegenheiten anderer Leute


Lojong-Losung Nr.26: Denke nicht über die Angelegenheiten Anderer nach.

Eine schöne Geschichte von gestern früh: Ich sitze um kurz nach sieben im Auto, auf dem Weg zur Schule. Ich muss an der Ampel vor dem Abbiegen auf die Hamburger Chaussee warten. Ich bin nicht der Einzige, und wie der Zufall es will, erkenne ich das Auto vor mir wieder, und auch seinen Fahrer. Ich fange an zu grinsen und frage mich, ob er wohl merkt, wer da hinter ihm fährt - er merkt es nicht, und so biegen wir beide nach links ab, er schneller, ich muss noch ein anderes Auto vorbeilassen - doch an der nächsten Ampel am Waldwiesenkreuz stehen wir wieder hintereinander, mit dem Ziel, auf die B76 abzubiegen.

Jetzt hat er es gemerkt; er schaut in seinen Rückspiegel und winkt mir. Ich strahle und winke zurück, und dann wird die Ampel grün. Wir fahren beide vor, können aber nicht einfach nach rechts abbiegen, weil viele Schüler mit dem Fahrrad auf dem Schulweg sind und Vorfahrt haben. Wir müssen so lange warten, dass die Ampel wieder rot wird; ich komme nicht über die Ampel. Er hat Glück und ist drüber, könnte jetzt also nach rechts fahren.

Macht er aber nicht. Er steht da noch immer. Er scheint auf vier Mädchen zu warten, die angehalten haben und von ihren Fahrrädern abgestiegen sind, weil ihre Ampel natürlich mittlerweile rot zeigt, also könnte er jetzt einfach losfahren. Er scheint aber darauf zu warten, dass diese Mädchen endlich (bei roter Ampel) über die Straße fahren. Sie fahren nicht, und da sein Gestikulieren nichts bringt, drückt er auf die Hupe, während die Ampel der quer fahrenden Autos auf grün schaltet.

Das Hupen verwirrt die Mädchen so sehr, dass eines nun doch losfährt - während von links die Autos auf sie zufahren. Er steht da noch immer. Eigentlich kann ich nicht zuschauen. Zum Glück ist das Mädchen die einzige, die losfährt, die anderen bleiben stehen, und so wird niemand angefahren, und jetzt hat er auch endlich gemerkt, was los ist, und fährt weiter (erstmal auf die falsche Spur). Aufatmen für alle Beteiligten.

In der nächsten Grünphase fahre ich los, geht alles problemlos, und ich muss schmunzeln, sogar ein bisschen kichern. Habe ich den Fahrer so sehr aus der Fassung gebracht, dass er sich nicht mehr auf den Verkehr konzentrieren konnte? Ich habe versucht, in seinen Kopf zu schauen - ich fand den Gedanken so amüsant, dass ich weiter gekichert habe - bis ich plötzlich abbremsen musste, mitten auf dem Theodor-Heuss-Ring - Stau. Auf der mittleren Spur, während links alle Autos zügig durchkommen, und ich kann nicht rausziehen, weil sie alle so dicht hintereinander fahren. Also muss ich weiter warten, bis ich nach einigen Minuten aus der Staustelle raus bin. Mist, ich habe gar nicht daran gedacht, dass das Barkauer Kreuz ja voller Baustellen ist und deswegen die Verkehrsführung geändert wurde. 

Ich hätte mich anders einordnen müssen, und das hätte ich auch getan, so wie jeden Morgen, wenn ich nicht in Gedanken bei dem Fahrer vor mir gewesen wäre und über sein Zaudern an der Ampel gekichert hätte. Und plötzlich macht diese Lojong-Losung für mich Sinn:

Denke nicht über die Angelegenheiten anderer Leute nach.

Eine der Losungen, für die ich einige Zeit brauchte, um mich mit ihr anzufreunden. Nicht über andere Menschen und ihre Gedankenwelt nachdenken? Heißt das, dass ich mir gar keine Sorgen um sie machen soll, wenn sie zum Beispiel gerade nicht bei mir sind? Sollen sie mir völlig egal sein? Was ist mit Hilfsbereitschaft, Fürsorge, hat das alles in der buddhistischen Gedankenwelt nichts mehr zu suchen? Nur egoistisch bei mir selbst sein?

Das ist nur ein Teil der Wahrheit. Zwei der Grundsätze im Buddhismus lauten Mitgefühl und liebende Güte. Natürlich helfe ich meinen Mitmenschen, wenn ich kann, und natürlich versuche ich zu verstehen, was sie durchmachen. Aber es ist schadhaft für mich selbst, wenn ich mir Sorgen über einen Menschen mache, an dessen Situation ich nichts ändern kann. Am Beispiel meiner Mutter:

Sie fiebert derzeit mit mir mit und macht sich Sorgen, ob ich mit der Diagnose vorankomme und ob es mir gut geht - so wie das vermutlich fast jede "gute" Mutter machen würde. Diese Sorgen helfen niemandem weiter, und am wenigsten ihr selbst. Ein großer Teil ihrer Denkzeit ist bei mir, Zeit, in der sie fröhliche Gedanken haben könnte, oder allgemeiner, weniger "schädliche" (für sie selbst) Gedanken. Es bremst sie selbst bei'm Streben nach dem Glücklichsein, wenn sie sich Sorgen um mich macht.

Ich versuche immer wieder, ihr das nachvollziehbar zu machen, aber ich habe natürlich keine Vorstellung davon, was es bedeutet, eine Mutter zu sein. Aber mittlerweile habe ich die Lojong-Losung verstanden und weiß, wie ich dahingehend trainieren muss. Ich denke nicht mehr darüber nach, ob die große Buba stressfrei durch die Schulwoche kommt. Ich denke nicht mehr darüber nach, ob die kleine Familie der Sannitanic gesund ist. Ich versuche, nicht mehr in die Gedankenwelten anderer Menschen zu gehen, und es ist wirklich ungemein befreiend.

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