Donnerstag, 20. Juni 2024

Ein fremder Ort


Ein Auswahlgespräch, das eigentlich kein Gespräch war. Für einen Autisten sehr verwirrend, aber zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, was mich erwartet und steige in die Buslinie Einundsechzig - wie praktisch, ohne Umsteigen komme ich von mir direkt zu der neuen Schule, an der ich im kommenden Jahr hoffentlich eine Vertretungsstelle haben werde.

Die Haare sind nicht gefärbt, die Fingernägel nicht lackiert. Ich möchte nicht schon wieder, dass der erste visuelle Eindruck meine Chancen vernichtet, und es dauert Wochen und Monate, um diesen Eindruck aus den Köpfen der Menschen zu bekommen. Weil Menschen nun mal so sind. Um die Zeit zu vertreiben, löse ich Rätsel und schaue auf meine Checkliste, ob mir noch irgendwelche Fragen einfallen, die ich im Gespräch stellen möchte, aber seien wir mal ehrlich, es geht um eine Vertretungsstelle im Umfang von dreizehn Stunden, ein Jahr und dann sehe ich die Schule nicht wieder. Was bleiben da wohl für Fragen? Ich nehme den Kuli zur Hand und notiere mir, ob ich vielleicht auch ein paar Stunden mehr machen kann, und ob mir jemand für die DaZ-Stunden eine kleine Einführung geben kann.

Wie anders ich das doch vor zehn Jahren gemacht hätte - da hätte ich zu diesem Zeitpunkt bereits die gesamte Schulhomepage inhaliert und viele kleine interessierte Nachfragen zum Schulprofil gestellt, hätte bewusst nicht angemerkt, dass kein Kollegiumsfoto verfügbar ist, hätte mir Punkte aus dem Schulprogramm zur Nachfrage herausgesucht... so hat man uns das für die Bewerbung auf Planstellen beigebracht. Fast zwei Hände voll Vertretungsstellen an unterschiedlichen Schulen haben die Realität auftreten lassen; die Schule sucht jemanden, hier ist jemand, der das machen würde, bringen wir die Formalitäten hinter uns.

Oder auch nicht.

Ich melde mich im Sekretariat an, bin dreizehn Minuten zu früh, gehe wieder in die Pausenhalle in eine Sitzecke und warte auf die Schulleitung. Sie kommt dann, begrüßt mich lächelnd und alles, was ab da passiert, katapultiert mich in eine Situation, die ich vor gut acht Jahren erlebt habe, und die der absolute Horror war, nur dass ich damals noch nicht wusste, warum, während ich es heute gut erklären kann.

Damals hat man mir auf dem Weg in's SL-Zimmer genauestens erklärt, was dort auf mich wartet, ein Tisch mit insgesamt fünf Personen, deren Funktionen, und dass man einen kleinen Fragebogen vorbereitet hat, den zum Zwecke der Vergleichbarkeit alle BewerberInnen bekommen. Ich stand also vor diesen Menschen, wollte ihnen gern die Hand schütteln, aber sie alle saßen bereits auf ihren Plätzen und niemand wollte mir die Hand geben, sondern hat einfach nur ein kurzes "Hallo" gelächelt.

Okay, ich war etwas verwirrt, denn ich war anders erzogen worden, aber nicht einmal die Schulleitung hat mir damals die Hand gegeben, und nein, das war noch weit vor dem Coronavirus. Jeder in der Runde hatte eine Tasse Kaffee, jeder hatte diesen Fragebogen vor sich liegen. Niemand hatte meinen Lebenslauf, niemand hatte meine Referenzen zur Hand. Die Schulleitung hatte es mir dann auch noch einmal sehr deutlich gesagt: "Also, Dr Hilarius, sie haben jetzt dreißig Minuten Zeit, um sich zu diesen sechs Fragen zu äußern, die wir für sie vorbereitet haben. Wir werden einfach nur zuhören. Lesen sie in Ruhe erstmal die Fragen durch und teilen sie sich dann ihre Zeit ein."

Diesmal schiebe ich allerdings noch etwas ein, was seit etwa einem Jahr zum Einsatz kommt: "Ich möchte vorher nur kurz darauf hinweisen, dass ich Autist bin und dass das Auswirkungen auf unser Gespräch haben..." - "Da müssen sie sich keine Sorgen machen, das hier wird kein Gespräch, die Zeit gehört ganz ihnen." Also wandern meine Gedanken direkt zurück zu den Fragen und zu dem Horror von damals.

Die Frage, bei der ich mich selbst kurz vorstellen soll, stellt kein großes Problem dar. Und welche Erfahrungen und Fähigkeiten ich für diese Stelle mitbringe? Ähm... ich habe schon immer Probleme gehabt, über meine Fähigkeiten zu sprechen. Knackig wurde es allerdings erst danach:

"Beschreiben Sie, wie man in Latein den Übergang von der Lehrbuchphase (Sek I) in die Lektürephase ansprechend gestalten kann."

Damals war vor mir einfach nur ein großes schwarzes Loch im Kopf. Heute weiß ich, dass ich eine Behinderung habe, die sich auf die Fähigkeiten im Bereich Theory of Mind auswirkt - ich kann mir keine Situationen vorstellen, die in diesem Moment nicht real sind. Und heute kommt noch dazu, dass ich in den vergangenen zehn Jahren keinerlei Latein unterrichtet habe (ausgenommen sechs Monate Gelehrtenschule). Lieber weiter zur nächsten Frage.

"Beschreiben Sie, wie Sie das Fach Latein auch außerunterrichtlich für SchülerInnen ansprechend und motivierend gestalten werden."

Genau das Gleiche, wieder ein schwarzes Loch. Ich kann mir mit Mühe und Not aus den Fingern saugen, wie ich das damals im Referendariat gemacht habe, mit den Caius- oder Quintus-Büchern und Texten, die aus unserem Lebensalltag stammen. Aber für neue Ideen muss ich wissen, was da für Menschen vor mir sitzen, damit ich weiß, wie ich mit ihnen arbeiten kann. Also wieder keine gescheite Antwort. Es kommt noch besser.

"Beschreiben Sie die beiden Themenkorridore im Fach Englisch."

Bitte was? Soll das jetzt eine Abfrage werden, ob ich den Lehrplan kenne? Ich habe in zwölf Jahren achtzehn Monate Oberstufe unterrichtet, weil niemand mich wegen der Kontinuität in der Sek II haben wollte. Zum Glück konnte ich da aus den Gesprächen mit der großen Buba etwas antworten, zum Beispieln, dass die Bezeichnung "Themenkorridore" ja nicht mehr ganz aktuell sei. 

"Beschreiben Sie, wie Sie das Thema identity in Ihrem Unterricht und in den beiden Pflichtklausuren behandeln lassen würden."

Schwarzes Loch. Es wäre alles etwas anders gewesen, wenn man mir vorher gesagt hätte, welche Lerngruppen im kommenden Jahr auf mich warten, dann hätte ich mich darauf vorbereitet und jetzt einen Plan vorlegen können, aber einen Autisten aus dem Nichts zu überfallen und die Antworten auf alle Fragen zu erwarten, das hat meiner Meinung nach nichts mehr mit Vergleichbarkeit zu tun.

Und so bin ich dann dreizehn Minuten früher fertig mit dem, was ich zu den Fragen sagen kann und möchte und frage, ob ich auch etwas über die Fragen hinaus Gehendes sagen darf? Nein, das bitte nicht, sonst sei ja die Vergleichbarkeit nicht mehr gegeben.

Diese Formalitäten. Dieses Alle-über-einen-Kamm-scheren. Das habe ich viele Jahre lang nicht mehr erlebt, und es hat gesessen wie ein Schlag in die Magengrube, und das ausgerechnet von einer Schulleitung, die ich noch von ganz früher kannte und in sehr positiver Erinnerung gehalten hatte. Ich war kurz davor, loszuheulen, und im Nachhinein hätte ich vorher ein Beruhigungsmittel nehmen sollen, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass es so ein schlimmes "Gespräch" wird, bei dem ich vor fünf schweigenden Köpfen sitze und ein Referat über meinen kommenden Unterricht aus meinen Fingern saugen sollte.

Ich denke, es ist klar, dass das nichts wird. Und das ist vielleicht auch ganz gut so. Das Gymnasium ist für mich zu einem fremden Ort geworden. Ich komme mit dieser krampfhaften Distanz, der Kälte, dieser Verschlossenheit für Andersartigkeit nicht mehr klar. Ich stehe vor einem großen Dilemma, wenn ich bedenke, dass ich eine Arbeit an einem Gymnasium finden muss, weil Gemeinschaftsschulen mich nicht mehr brauchen, aber die Gymnasien so unwirtliche Orte für mich sind.

Es gab nur einen einzigen kleinen Lichtblick, ein silver lining ganz am Ende des Gesprächs, als einer der schweigenden Köpfe mich noch gefragt hat, wie viele Stunden ich denn zu übernehmen bereit wäre. Mich hat das völlig aus der Bahn geworden, denn die Anfrage der Schule lautete auf eine halbe Stelle. Was als Antwort darauf kam, kann ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht schreiben.

Jedenfalls war das mal wieder nichts und ich darf meinen Blick wieder auf den Bürgergeldantrag wenden, nachdem ich diesen gestrigen Horrortag verarbeitet habe. 

Also heute noch nicht.

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