Freitag, 11. Oktober 2024

Ferienreif!


Leute, ich bin sowas von reif für die Ferien! Und das war alles so absehbar, es ist genau gekommen, wie befürchtet: Mitten in der Diagnosephase (Crohn?) nach über einem Jahr Arbeitslosigkeit an eine neue Schule zu kommen, das bringt den Autisten vollkommen aus seiner Taktung. Wieder neue KollegInnen, die mir sagen möchten, wie ich meinen Unterricht zu machen habe - ja, diesmal mit "Du musst..."-Anweisungen und nicht "Ich würde..."-Vorschlägen - wieder ein Haufen neuer SchülerInnen, die sich erstmal an das Prinzip Dr Hilarius gewöhnen müssen und anfangs am Rad drehen, das alles mit dem Verstärkungsfaktor Perspektivschule

Zweitsteckung zu sein gibt einem viele interessante Einblicke in den Unterricht der anderen Lehrkräfte. Und dann merkt man natürlich auch, wenn jemand nicht so unterrichtet, wie es eigentlich nach dem Schulkonzept gedacht ist, und das kann ich dann in meinem Kopf wieder nicht vereinbaren. Wir unterrichten nach der Neuen Autorität, was ich zu einem großen Teil nachvollziehen kann, da ich aus der Humanistischen Pädagogik komme.

Dann aber tönt es von mehreren Seiten: Du musst strenger sein, du musst die gleich einnorden, sonst tanzen die dir irgendwann auf der Nase rum, da musst du mit Strafen arbeiten, Unterrichtsklima Furcht, das kann es doch nicht sein. Und ich kann noch nicht einmal garantieren, dass das Hilarius-Prinzip diesmal aufgeht, denn mein Vertrag läuft nur bis zum elften Dezember, ich kann mich also womöglich nicht einmal richtig etablieren. Keine Zeit, meine Art des Unterrichts vielleicht wertzuschätzen lernen.

Das alles, kombiniert mit der Gesundheit, sorgt dafür, dass ich die ersten Ferientage geistig tot sein werde. Es ist alles viel zu viel, volle Stelle kombiniert mit mehreren Ärzten, daran muss ich mich erst gewöhnen.

Ich weiß, ich bin an unserer Schule nicht die einzige Lehrkraft, die reif für die Ferien ist. Wie sieht es bei Euch aus?

Sonntag, 6. Oktober 2024

Die Hochzeit meines Bruders


vorweg: Ich bin mir sehr sicher, dass er das lesen wird. Dass sie das lesen werden; und ich möchte nur vorweg den Ratschlag geben, das mit einem Augenzwinkern zu lesen. Denn unter'm Strich habt Ihr mich heute sehr, sehr glücklich gemacht.

Lieber Bruder, liebe Schwägerin!

Vor ein paar Wochen habe ich Mama gefragt, ob es wohl okay ist, wenn ich eine kleine, witzige Rede zu Eurer Hochzeit schreibe. Im Studium habe ich es geliebt, Beiträge für die Bühne zu schreiben und aufzuführen, und das war so eine tolle Gelegenheit - gerade weil es sich ein wenig so angefühlt hat, als käme die Hochzeit aus dem Nichts. Unsere Eltern hatten sich bereits damit abgefunden, dass unsere Familienlinie hier endet, und dass sie nie Großeltern werden würden, und dann kam eines nach dem anderen, ziemlich zügig. Reichlich Futter für ein paar unterhaltsame Worte.

Und dann kam nichts. Keine Inspiration, keine Muse, stattdessen Corona, die Arbeit an einer neuen, herausfordernden Schule und chronische Krankheit. Ist doch nicht wahr... aber ich hatte tatsächlich ein paar Tage vor Eurer Trauung die bittere Erkenntnis an unsere Eltern getextet, dass ich wohl nichts beisteuern könnte. Aber dann ist da ja noch Mama, die bei solchen Anlässen ihren Mund nicht halten kann - zum Glück!

Immerhin wollte ich aber dabei sein an diesem Tag, für Euch vielleicht der glücklichste seit Langem. Und dabei gab es Vieles, was im Kopf dieses Autisten im Weg gestanden hat. Mit so vielen Menschen einen ganzen Tag verbringen... normalerweise habe ich Medikamente, die das leichter machen, aber die sind zur Zeit nicht mehr da. Dazu meine unberechenbare gesundheitliche Situation... und dann kam auch noch die Schule dazu, denn unsere Schule hat sich keinen Brückentag gegönnt, im Gegenteil, Crosslauf für unsere SchülerInnen war angesagt, und Lernentwicklungsgespräche für die Eltern. Und ich war als Aufsicht eingeteilt, genau zum Zeitpunkt der Trauung, wie ungünstig. Viele Gründe also, abzusagen. Nix da. Ich wollte meinen Bruder unbedingt einmal in dieser Situation erleben, echte Verliebtheit für Publikum, wie geht er damit um, und ich wollte endlich meine Schwägerin und meine Nichte kennenlernen.

Zum Glück ließ sich die Aufsicht tauschen, und so war ich früh in der Kälte an der Schule, danach rasant nach Hause. Dabei in den falschen Bus eingestiegen, abgelenkt durch ein Schülergespräch, halbe Stunde Umweg, Anschlussbus verpasst, Stresslevel steigend. Als ich dann in den Bus zum Rathaus eingestiegen bin, war ich einigermaßen aufgewühlt, aber ich wollte das Ereignis auf keinen Fall verpassen.

Also gehe ich auf das Standesamt zu, und sehe sofort den roten Hut. Mamas Markenzeichen. Zum Glück, möchte ich meinen, denn es standen hier und da verteilt drei verschiedene Hochzeitsgesellschaften vor dem Amt - Wochenende, mittags, what do you expect. Eine Gesellschaft komplett in rote Shirts gewandet, und ich hatte ein wenig Angst bekommen, ob ich einen Dresscode verpasst hätte, aber wie gesagt, da war dann der rote Hut und nach und nach ist die Familie eingetrudelt, Onkels, Tanten, und natürlich auch die andere Familienhälfte, die ich nun zum ersten Mal sehen konnte.

Und Dein Trauzeuge - am Gesicht sofort wiedererkannt, aber ich habe gestaunt, wie viele graue Haare er bekommen hat, dabei wirkte es wie gestern, dass ich ihm noch an der Uni über den Weg gelaufen bin. Na, dann muss doch irgendwo auch der Bräutigam sein, aber ich hätte ihn nicht bemerkt, wenn unser Bruder mich nicht auf ihn hingewiesen hätte. Und da war er, und innerhalb von Sekunden wurde zuerst das Outfit gescannt.

Diese Schuhe.

Die gehen ja gar nicht, war mein erster Gedanke - dabei lag das Outfit voll im Trend, eine Kombination aus sandfarben, weiß und hellblau, ein schönes maritimes Motto. Allerdings wirkten die Schuhe wie ein rebellischer Kontrapunkt zur konservativen Fliege und Einsteckblume. Sind das Sportschuhe? Ganz in weiß? Fehlt eigentlich nur noch ein Nike-Logo, aber das war nicht dabei. Der Fairness halber muss ich hier aber auch erwähnen, dass ich mich innerhalb der nächsten Stunde mit den Schuhen anfreunden konnte, denn irgendwie haben sie ja zu Dir gepasst, laid-back, lockerer, entspannter, eigentlich genau richtig, könnte man sagen.

Und dann die Braut in einem absolut grandiosen Zweiteiler, eine weiße Spitzenbluse und ein cremefarbener, langer Rock, ein Hauch von bauchfrei, wunderbar passend zur gebräunten Haut und dem Sonnenschein gestern - der Hammer. Und dann erst habe ich realisiert, dass ich Dich, liebe Schwägerin, bisher noch nie gesehen hatte. Und dann Euch beide strahlend, Arm in Arm zu sehen, das hat mir ein Lächeln auf's Gesicht gebracht, fast schon krampfhaft, aber ganz ehrlich und authentisch. Ich habe selbst nicht so ganz verstanden, warum ich mich gerade so sehr freue.

Dieses Grinsen blieb auch, während die Standesbeamtin den Namen Eurer Tochter falsch genannt hat, und danach den Namen der Braut, zwei kleine fauxpas, die dem Ganzen allerdings Authentizität gegeben haben, das war erfrischend. Zu dem Grinsen haben sich dann doch tatsächlich zwei kleine Tränchen in den Augen eingefunden, und da sage nochmal jemand, Autisten seien emotionslos. Aber bevor ich zu gefühlsduselig werden konnte, kam ein Highlight der ganzen Zeremonie: Das Ja-Wort, das Du, lieber Bruder, so säuselig zur ihr hingehaucht hast, dass wir uns ein Kichern kaum verkneifen konnten. Ist halt schon etwas Besonderes, den Bruder, den man seit über vierzig Jahren kennt, so liebesduselig zu erleben. Es war grandios!

Ebenso grandios wie der Fotomoment danach vor dem Standesamt, bei dem wir alle quasi Spalier standen; bevor ich das realisiert hatte, hat man uns ein Bambusstöckchen mit Glöckchen und Geschenkband in weiß und rosé in die Hand gedrückt, so dass wir Euch bei'm Hinaustreten aus dem Gebäude wie ein Team aus Cheerleadern empfangen konnten. Und wie wunderbar Du dich dann über Deine Gattin gebeugt hast, um sie zu küssen, das hatte etwas Filmisches - natürlich auch hier nicht ohne das familientypische Lästern, denn Ihr habt es geschafft, das genau im Schatten einer der schlanken Säulen des Gebäudes zu machen. Um Euch herum die Sonne, doch Ihr steht im Dunklen.

Was mich zum Tenor bringt, der sich durch die Rede der Standesbeamtin und unserer Mutter gezogen hat, und an dem ja auch etwas dran ist: Zu einer Ehe gehören auch Schattenmomente. Man mag von stürmischen Zeiten oder von Gewitterphasen sprechen - es ist klar, dass es zwischen Euch in den kommenden Jahren immer auch mal krachen wird, weil Ihr unterschiedlicher Meinung zu einer Sache seid. Das ist auch gut so: Wie eine politische Opposition ist das Eure Möglichkeit, gegenseitig den Horizont zu erweitern und nicht in den gewohnten Bahnen zu erstarren. Jedes Gewitter hat etwas Reinigendes, hieß es später in der Rede, und die Rednerin - Mama - weiß, wovon sie da gesprochen hat.

Natürlich hat es auch zwischen unseren Eltern gekracht. Auch wenn sie versucht haben, das vor uns Kindern "geheim" zu halten, hat das nicht immer geklappt, und ich erinnere mich an Momente, in denen ich ängstlich im Bett gelegen habe und mich gefragt habe, ob Mama und Papa sich jetzt trennen. Schreierei, Tränen, das alles gehört gerade im Leben eines Autisten dazu (Meltdown, anyone?) - und trotzdem sind unsere Eltern jetzt seit über fünfzig Jahren verheiratet und werden irgendwann, nicht zu bald, auch noch zusammen in's Grab fallen.

Ich wünsche Euch beiden, dass Euer Band ebenso all' diesen Unwägbarkeiten standhalten wird. Das sage ich nicht ganz uneigennützig - ich werde nie das leckere Essen auf der Silberhochzeit unserer Eltern vergessen, also bis dahin müsst Ihr bitte auf jeden Fall kommen, damit ich mir noch einmal hemmungslos den Wanst vollschlagen kann und danach mit Haus-Natron wimmernd auf dem Bett liegen muss, weil ich mich überfressen habe.

Macht das, Ihr Lieben. Macht aus dieser Zeit eine der schönsten Eures Lebens! Nehmt Eure Tochter mit durch dieses aufregende, nicht immer einfache Abenteuer, und wer weiß, vielleicht gesellt sich irgendwann ja noch ein kleiner Steppke dazu. 

Ich hoffe, Ihr habt Euer Hochzeitswochenende in vollen Zügen genossen. Ich bin früher gegangen, Ihr wisst warum, aber traurig werden konnte ich darüber aus zwei Gründen nicht:

1) Diese Trauung, die ich miterleben durfte, hat mich wahnsinnig glücklich gemacht, eine Art Rausch, der bis zum heutigen Sonntag angehalten hat - jetzt wird es langsam Zeit für die Alltagwerdung - und der jeden wehmütigen Gedanken verdrängt hat.

2) Es war einfach zu absurd, wie ich danach durch die Stadt nach Haus gegangen bin, zwei Meter groß, schwarz lackierte Fingernägel und gänzlich schwarzes Outfit, mit zwei der weiß-rosé-farbenen Cheerleaderglöckchen in den Händen. Wenn mich irgendjemand darauf angesprochen hätte, hätte ich ohne Zögern mit einem Strahlen geantwortet, dass ich von der Hochzeit meines Bruders komme und es mir vollkommen egal ist, was andere Menschen denken mögen; in diesem Moment war mir nur wichtig zu wissen, dass Ihr beide glücklich seid.

Bleibt auch weiterhin glücklich, geht durch diesen Leistungskurs in Sachen Teamfähigkeit und habt viele schöne Stunden als Familie. Auch wenn ich manchmal in der Versenkung verschwunden erscheine: Ich bin immer hier, ich erlebe das mit, und freue mich auch weiterhin für Euch und fiebere mit Eurem Leben mit.

Danke, und alles, alles Liebe für Euch!

Euer Tobi