Disclaimer: Diese
Geschichte ist Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen und
Ereignissen sind rein zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt. Das wäre ja
sonst ein roman à clef, und zu solchen literarischen Kunststückchen ist der
Autor sicher nicht fähig.
part 2
Wir kennen uns
von den Saturnalien, der Theateraufführung an unserem Institut. Wir studieren
beide Latein. Naja, er studiert, ich habe mein erstes Staatsexamen bereits
erworben. Julian ist mir damals in der Gruppe gar nicht so sehr aufgefallen, ein
bisschen unscheinbar, ein bisschen Nerd. Aber er hatte immer gute Laune und ist
eingesprungen, wenn mal ein Darsteller ausgefallen ist. So hatten wir über
einige Wochen losen Kontakt bei den Proben, aber nach der Aufführung trennten
sich unsere Wege wieder.
Für mich nahte
der Tag des Auszugs. Ich hatte erfahren, dass ich mein Referendariat in Husum
absolvieren sollte, also hatte ich mir dort eine günstige Wohnung gesucht. Vor
dem Umzug wollte ich aber noch einen netten Abend mit meinen Freunden in Kiel
verbringen und hatte deswegen zum Sit In eingeladen. Alle Bekannten, die mir so
eingefallen sind, und auch Julian war dabei. Ich bin nicht davon ausgegangen,
dass er kommt, warum sollte er auch, wir hatten uns seit Monaten nicht gesehen.
Doch ich hatte seine Zusage postwendend in meiner Mailbox und somit sahen wir
uns im Juli noch einmal, bevor ich Kiel verlassen sollte. Ich hatte mir nichts
weiter dabei gedacht und mich dann ins Referendariat gestürzt, die Kieler
Verbindungen zu lösen versucht und wollte Anschluss in Husum finden.
Pustekuchen.
Neue Stadt, graue Stadt, spießige Stadt, nichts zu erleben, spießige Schule und
so verbrachte ich ein Jahr dort, in dem ich mir darüber klarzuwerden versuchte,
wie es mit meinem Leben weitergehen sollte. Denn von Husum hatte ich die Nase
mittlerweile gestrichen voll, das war kein Ort, an dem ich glücklich werden
konnte. Ich vermisste meine Kieler Freunde, daran konnten auch die sporadischen
Besuche meiner besten Freundinnen Corinna und Regina – Cory und Reg – nichts
ändern.
Die
Sommerferien sollten mein Leben auf den Kopf stellen. Keine Schule, keine
Unterrichtsvorbereitungen, viel gedankliche Freizeit. Es war Zeit, für einen
Nachmittag nach Kiel zu fahren, wir hatten uns bei Reg verabredet. Es war nur
fair, dass nicht immer sie es waren, die die lange Tour nach Husum fuhren. Die
Sonne schien, es war angenehm warm, ein Donnerstag im Juli. Es fühlte sich gut
an, wieder nach Kiel zu kommen, ein bisschen wie Heimkehr. Und dann war da auch
noch die Vorfreude darauf, Julian wiederzusehen.
Warum hat Timo mich eingeladen? Wird
bestimmt ganz nett werden, aber er ist der Einzige in der Runde, den ich
zumindest etwas näher kenne. Aber warum soll ich mir darüber jetzt den Kopf
zerbrechen? Ich habe handfeste Probleme im Kopf. Ich habe seit ein paar Tagen
nichts mehr von meiner Freundin gehört. Sie wollte diesmal allein in den Urlaub
fahren, ich hab nicht ganz verstanden, wieso, ich hatte nicht den Eindruck,
dass zwischen uns etwas im Argen ist. Und ich konnte Situationen eigentlich immer
gut einschätzen. Ich habe das Handy in der Hosentasche, irgendwann wird sie
sich schon melden. Vielleicht lenken die Leute mich ja ein bisschen ab, ich bin
gedanklich eh nicht ganz anwesend. Ich habe eine Ewigkeit gebraucht, bis ich an
Reginas Haustür geklingelt habe. Ich habe mir einen Parkplatz gesucht, der
zwanzig Minuten Fußmarsch entfernt liegt, bin ein bisschen genervt deswegen.
Jetzt stiefel ich die Treppen nach oben, dritte Etage, hieß es. Lächeln
aufsetzen. Nichts anmerken lassen. Wäre scheiße, wenn die Anderen meinetwegen
keinen schönen Nachmittag haben. Ich möchte niemandem etwas kaputtmachen. Und
vielleicht wird es ja wirklich ganz nett, ich habe eigentlich keine Probleme
damit, neue Leute kennenzulernen.
Und ich freue mich auch darauf, Timo
wiederzusehen. Das letzte Mal muss schon ein paar Monate her sein, kann mich
nicht genau erinnern. Das war bei der Auszugsparty in seiner alten Wohnung. Ich
kenne Timo seit knapp zwei Jahren, aber auch nur, weil wir zusammen an der
Theateraufführung mitgearbeitet haben. Ich fand ihn klasse, er hatte immer
einen Plan, er hatte immer den Überblick, irgendwie stand er immer im
Mittelpunkt und ist mit allen gut klargekommen. Ich war ein bisschen neidisch,
weil ich sonst diese Rolle habe. Es war cool, ihm zuzuhören, ich dachte mir,
dass ich von dem noch etwas lernen kann. War schon schade, dass wir nach der
Aufführung keinen weiteren Kontakt mehr hatten, nichts Regelmäßiges. Ich hätte
mich gern mal mit ihm auf einen Kaffee getroffen. Aber er hat mich nie angeschrieben,
und warum hätte ich das übernehmen sollen, er hätte bestimmt abgelehnt. Und
deswegen freue ich mich jetzt einfach, dass ich dabei sein kann, und dort steht
auch schon Regina im Türrahmen und lächelt mir entgegen.
Ich war
stinksauer über den Verkehr auf der Autobahn, ich wusste, ich würde zu spät
kommen. So drehte ich die Musik auf volle Lautstärke und öffnete die Fenster
auf Durchzug. Ich sang, nein, ich schrie die Liedtexte mit, na toll, gleich
vier Uhr, ich sollte jetzt schon da sein. Fünf Minuten, zehn Minuten, zwanzig
Minuten zu spät, hämmerte es in meinem Kopf, als ich an Reginas Wohnung
klingelte. Sie wohnte zusammen mit ihrem Freund Malte, ein Vorzeigepärchen wie
aus den Familienzeitschriften, fehlte nur noch das Kind. War aber zur Zeit nicht
in Planung, oder doch? Bestimmt hatte ich Reg schon öfters gefragt und es
einfach wieder vergessen.
Ich bin ein
sehr egozentrischer Mensch. Dinge, die mich interessieren, kann ich mir gut
merken. Aber es interessierte mich nicht wirklich, ob sie schon in der
Familienplanung waren, das war aus Höflichkeit gefragt, das macht man eben so.
Ich hasse Höflichkeitsfloskeln. Ein „Wie geht’s Dir?“, wenn mich die Antwort
überhaupt nicht interessiert. Ein „Gut“ als Antwort, damit man wieder seine
Ruhe hat. Wieder einer dieser Momente, in denen ich mich frage, warum die
Menschen nicht ehrlicher sein können? Ich habe das Konzept der Notlüge gelernt.
„White lies“ sagen die Amis, glaube ich. Insgeheim wünsche ich mir, dass ich
irgendwann komplett ehrlich sein kann – aber Vieles wollen die Menschen nicht
wissen. Sie tun so, als ob man offen sein kann, ja, man wird sogar darum
gebeten. Und dann wird man vor den Kopf gestoßen – „Was soll ich damit jetzt
anfangen?“ – „Wieso glaubst du, dass ich mit so was umgehen kann?“ – „Es ist
besser, wenn wir unseren Kontakt an dieser Stelle beenden.“ Alles schon erlebt.
Reg hat immer versucht, mich da zu stärken, indem sie mir klargemacht hat: Jene
Menschen, die dich nicht so nehmen wollen oder können, wie du bist, sollten in
Deinem Leben keine weitere Relevanz haben.
Relevanz.
Naja, so hatte ich es damals für mich umformuliert, denn das erschien mir
einleuchtend. Seitdem denke ich bei jedem Menschen darüber nach, ob er für mich
relevant ist oder nicht, und ich hatte mich entschieden, zu unserem Treffen nur
relevante Menschen einzuladen. Ich war selbst etwas erstaunt, dass Julian
dazugehörte. Vielleicht war es seine dauerfröhliche Art, die mich damals auf
der Bühne angesteckt hat. Er strahlt eigentlich immer – ich nahm mir vor, das
als Vorbild zu sehen, auch wenn ich innerlich noch kochte, dass ich zu spät war.
Regina und Malte standen in der Tür und begrüßten mich. Über ihre Schulter
hinweg konnte ich einen Blick in das Innere der Wohnung werfen und entdeckte
ihn: Weißes Shirt, karierte Surfshorts, das rechte Handgelenk voller
Festivalarmbänder, die Oberarme tätowiert, braungebrannt, der Blick ein
bisschen müde. Endlich sahen wir uns wieder. Er ganz in weiß, ich ganz in
schwarz, das Wort „komplementär“ schoss mir durch den Kopf und ich wusste noch
nicht, welche Bedeutung es in Zukunft haben sollte.
to be continued...