Sonntag, 3. Juli 2016

Im Auge des Sturms


Ich habe Mühe, die Augen offen zu halten. Ich halte die rechte Hand davor, um mich vor den herumfliegenden Teilen zu schützen, Staub, Steinchen, alles, was der Sturm so aufwirbelt. Das Atmen fällt mir schwer. Wenn ich den Mund öffne, wird mir die Luft mit einer solchen Gewalt in den Rachen gedrückt, dass ich mich verschlucke, daher halte ich die Zähne geschlossen und versuche, auf diese Weise zu atmen.

Ich habe nur eine Hand frei, um mein Gesicht zu schützen, die andere sucht unentwegt den Boden ab nach meinen Besitztümern, die der Sturm aus den Regalen gefegt haben könnte. Ich muss versuchen, sie zu retten, bevor sie von der Gewalt des Orkans aufgesaugt und davongeweht werden, es geht hier um mein letztes Hab und Gut, meine letzten Münzen und Trinkets, Erinnerungsstücke an die Zeit vor dem Sturm.

Die Zeit davor... ich halte inne und versuche mich zu erinnern. Wann hat der Sturm begonnen? Es kommt mir vor, also würde ich seit Ewigkeiten durch den Orkan streifen, auf der Suche nach meinen Habseligkeiten, auf der Suche nach Schutz. Auf der Suche nach allem, was mich ausmacht. Nach meiner Identität? Aber es kann gar nicht so lange her sein, dass der Sturm aufgezogen war.

Ich kann mich noch an den Morgen erinnern, ein Morgen wie jeder andere. Ich wurde geweckt durch Sirenen draußen vor dem Fenster. Krankenwagen, Polizei, das Übliche. Kirchengeläut. Warum kann ich mich danach an nichts erinnern? Es ist, als sei der Sturm von einer Sekunde auf die andere aufgekommen, und warum gerade hier? Ich hatte die Fenster geöffnet, um die frische Morgenluft einzuatmen. Ich hatte das Chaos in meiner Wohnung gesehen und mir vorgenommen, etwas dagegen zu tun. Ich wollte aufräumen, und dann...

Plötzlich war ein ungeheurer Lärm aufgekommen, ich konnte den Verkehr draußen nicht mehr wahrnehmen, ich hörte nichts außer dem Heulen des Sturms, der meine Wohnung gnadenlos durchtoste, meine Sachen von einem Ende zum Anderen wirbelte, der begann, mich zu bedrohen. Filmriss. Und jetzt bin ich hier, der Orkan fegt meine Haare durch mein Gesicht, ich stemme mich dagegen, auf der Suche nach einem Ausweg, wie kann ich dieser Katastrophe nur entkommen? Ich werde ihr wohl kaum ein Ende setzen können, oder?

Doch dann blicke ich nach unten, ein Stück nach rechts neben meinen Füßen. Das Symbol. Ich kannte es schon, seitdem ich an diesen Ort gezogen war. Ich hatte gelernt, dass dieses Symbol "Ruhe" bedeutete - ein Kreis, in der Mitte mittels einer Linie durchteilt. Mit weißer Farbe gemalt. Sollte etwa eine bösartige Magie hinter diesem Sturm stecken? Je länger ich das Symbol betrachtete, umso mehr Erinnerungsfetzen fielen an ihren Platz zurück; ich hatte das Symbol heute schon einmal betrachtet.

Was hatte ich getan? Denk nach! Hatte ich dieses Symbol mit einem Ritual aktiviert? Eine Zauberformel gesagt? Geheime Beschwörungszeremonien? War gar ich selbst verantwortlich für diesen Sturm??? Es fiel mir wie Schuppen von den Augen, für einen Moment versagte das Atmen, für diesen Moment der Einsicht, und aus tiefstem Herzen erleichtert hob ich den rechten Fuß und trat auf das Symbol. Innerhalb weniger Sekunden legte sich der Sturm, endlich konnte ich wieder richtig atmen, endlich konnte ich um mich blicken. Ich schaute nach unten.

Es hat lange gedauert, doch ich sehe es nun ein: Ich muss endlich diesen verdammten Staubsauger reparieren!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen