Samstag, 1. Juli 2017

Tagebuch: Lymphdrainage

Heilende Hände sind ein beliebter literarischer Topos

gestern, geschrieben von einem Heutegestrigen

...und was ist das überhaupt für ein Scheißwetter, es regnet den ganzen Tag, es ist den ganzen Tag dunkel, es ist Ende Juni, aber es ist Schleswig-Holstein, und was erwarte ich, denn schließlich hatten wir eine Kieler Woche mit untraditionell viel zu gutem Wetter und ganz ohne terroristischen Anschlag, da muss ja irgendwann eine Quittung kommen, also warum nicht, wenn die Touris alle weg sind und Dr Hilarius in die Stadt muss zur Lymphdrainage, weil das auch schon so grau und dreckig klingt, als ob man mir Schläuche in die Arme steckt, in die Venen, in meinen Finger mit "noch leicht lymphatischer Schwellung", Schläuche - natürlich durchsichtig - durch die dann weiß-gelbliche, eitrige Pampe vermischt mit Blut abgesaugt wird, weil ich nicht auf die Idee komme, dass das lateinische lympha sich direkt vom griechischen nymphe ableitet (denn ich kann ja kein Latein mehr und ignoriere nach wie vor die von Herrn Leinhos empfohlenen griechischen Schriftzeichen) und daher kann ich nicht wissen, dass lympha keine eitrige Pampe ist, sondern in der übertragenen Bedeutung einfach nur "klares Wasser" bezeichnet, sodass letztlich auch eine Birgit Vanderbeke auf mich stolz sein dürfte. So ein Scheißwetter ist das.

Und dann überfordern mich die ganzen Sinneseindrücke, das ging schon in der Schule los, in der ich mehrere Tests zurückgeben konnte und die übliche Mischung von Lachen und Weinen dabei war, und immer mehr Schüler mich in der Pausenhalle fragen, warum ich denn im Sommer von der Schule gehe, auch wieder Schüler, an die ich mich nicht erinnern kann, und ich kann ihnen nur antworten, dass ich an dieser Schule eben nicht gebraucht werde. Immerhin ist das ehrlich. Auch wenn ich weiß, dass manche Menschen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, mensch, das kannst du denen doch nicht so sagen!

Draußen fahre ich vorsichtig. Denn teilweise steht das Wasser zentimeterhoch auf der Straße, und es war genau so ein Wetter in genau so einem Juni vor ein paar Jahren, als ich meinen Autounfall hatte, und seitdem lerne ich, respektvoll mit regennasser Straße umzugehen. Gleichzeitig sitzt mir die Zeit ein bisschen im Nacken - denn sobald ich zuhause bin, habe ich nur zwanzig Minuten Zeit, bevor ich los muss zum Bus in Richtung eiterabsaugende Schläuche. Warum fährst Du nicht mit dem Auto, warum nicht gleich nach der Schule in aller Ruhe dorthin, fragt mich Frau Steinbau, wohl wissend, dass ich als HB immer etwas Angst habe, wenn ich an neue, unbekannte Orte reisen soll und neue, unbekannte Menschen treffen, und ich habe Angst, dass ich mich mit dem Auto verfahre und keinen Parkplatz finde, und zu spät komme und alle enttäuscht von mir sind, und ich hasse es, über ein Gelände zu laufen und auszusehen, als hätte ich die Orientierung verloren, weil ich doch immer alles gleich irgendwie hinbekommen habe und ich einfach nicht hilflos aussehen möchte. Also fahre ich mit dem Bus da hin, und zwar viel zu früh, damit ich genügend Zeit habe, um mich dort zurechtzufinden. Klar könnte ich dort einfach Leute fragen, Ärzte, Campus-Studenten, aber das kann ich nicht, das habe ich nie richtig gelernt und überhaupt brauche ich das ja gar nicht.

Was ich nicht erwartet habe: Der Bus hat fünfzehn Minuten Verspätung - in der Zwischenzeit fahren alle anderen Linien an mir vorbei, kein anderer Fahrgast wartet noch auf die Einundsechzig. Ich werde unruhig und ängstlicher, mein schöner Zeitvorsprung schwindet dahin, ich werde auf dem Campus in einem Mordstempo diese kleine Praxis finden müssen, und es windet und nässt...

...und dann stellt sich das alles als typische HB-Paranoia heraus. Auf die Minute genau betrete ich die Reha-Praxis, und eine junge Dame wartet mit einem freundlichen Lächeln auf mich und nun erfahre ich, was genau eine Lymphdrainage ist - sie soll das aufgestaute Wasser dicht unter der Hautoberfläche in den betroffenen Arealen ableiten, um Schwellungen zurückgehen zu lassen. Und das passiert nicht durch brutales Absaugen, sondern durch eine ganz zarte Massage des Fingers, des gesamten linken Arms bis zur Achsel und der Lymphknoten am Hals. So massiert sie mir die relevanten Stellen und wir erzählen locker ein wenig über Ausbildung, Traumberufe, Schuhgrößen und dies und das und ich fühle mich sauwohl. Ich liege da entspannt auf der Liege und zwei warme Hände sorgen für pures Wohlbefinden, und um diesen Satz noch schlüpfriger zu machen, erwähne ich beiläufig - hier im Blog - dass Er auch mal Physiotherapeut werden wollte, und ich komme nicht umhin, den Gedankenschön zu finden, wie er diese Lymphdrainage bei mir durchgeführt hätte.

Total entspannt bummele ich durch den Regen Richtung Weltraumbasis. Entspannt, zufrieden, ausgeglichen, und erst jetzt bemerke ich beim Blick auf meinen operierten Finger, dass die Schwellung jetzt schon deutlich zurückgegangen ist, endlich kann ich wieder Poren und kleine Hautfältchen erkennen, und ich leuchte noch mehr innerlich - natürlich in Regenbogenfarben, denn seit meinem Blick in die Nachrichten von der Schule aus weiß ich, dass es endlich die gleichwertige gleichgeschlechtliche Ehe in Deutschland gibt.

Und ich bin glücklich.

Es versteht sich von selbst, dass mit der Ankunft zuhause der Wellness-Abend erst begonnen hat und dann mit einem sinnlichen Entspannungsbad, einer wunderbaren Meditation und voller Stolz auf meine Diplombuba abgerundet werden konnte.

Manche Tage sind einfach so, und so sollte man jedem einzelnen Tag die Chance geben, großartig zu werden.

post scriptum: Wenn ich auch viel Mist schreibe - irgendwie finde ich diesen Artikel gut. Jetzt kräht es wieder von den Dächern: "Arrogant! Selbstverliebt!" Mich muss nicht jeder mögen. Vielleicht liest ja zufällig irgendwann ein Lektor das Geschmiere hier, cacata charta (Catull anyone?), und es bringt mir Tantiemen ein? Aber beim Reflektieren - nein, so gut ist dieser Text dann doch nicht.

1 Kommentar:

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