Sonntag, 2. Juli 2017

Seelenstriptease

Meine erste Band - yep, da habe ich mich wohlgefühlt.

So, ich packe jetzt einmal ein düsteres Kapitel meiner Jugend aus, fünf Jahre, die manche Leser nicht werden verstehen können, allerdings denke ich, dass die Mehrheit das damalige Verhalten des jungen Dr Hilarius wird nachvollziehen können. Es geht um Handball und damit verbundene Verleugnung meiner eigenen Persönlichkeit.

Ich bin aufgewachsen in einem Dorf, dessen Einwohner zu einem großen Teil handballverrückt waren. Jedes Wochenende schien ein Punktspiel eines der Lokalteams in der Sporthalle der Grundschule stattzufinden - oder aber ein Bus fuhr los, beladen mit Mannschaft und begeisterten Fans, um andernorts irgendwelche Titel zu verteidigen.

Meine Eltern schauten sich jedes Spiel an, und natürlich spielten meine beiden älteren Brüder in der ortsansässigen Mannschaft. Man kannte sich, man war miteinander befreundet , die Familien in der Doppelkopfrunde meiner Ma waren handballverrückt, ebenso der Skattreff meines Vaters. Es ist nur logisch, dass auch ich Handball gespielt habe; meine Eltern haben mich umgehend in die entsprechende Mannschaft gesteckt, und so ging ich einmal in der Woche zum Training. Das Handballspielen tat mir gut; ich bekam ausreichend Bewegung und machte etwas mit Anderen zusammen, und deswegen ging ich auch immer wieder gern los.

Dachten meine Eltern.

Tatsache ist, dass ich Handball gehasst habe. Ich fand es nicht nur langweilig und uninteressant, ich habe es gehasst, bei jedem Training aufs Neue mitzuerleben, wie ich der mit Abstand unsportlichste Spieler der Mannschaft war und achtundneunzig Prozent der Punktspiele auf der Bank verbrachte - was mir am liebsten war. Nur wenn unsere Mannschaft haushoch in Führung lag, hat man mich nochmal auf den Platz geschickt, linksaußen, und da bin ich hin- und hergelaufen und hoffte, dass niemand den Ball zu mir passte. Ich würde ihn sowieso nicht fangen, oder fallenlassen, oder das Falsche damit anstellen. Ich konnte kein Handball, ich war zu unsportlich, es interessierte mich nicht, ich fühlte mich dort gemobbt, ich fühlte mich dort falsch, ich hab' immer wieder das Gefühl bekommen, alles falsch zu machen.

All' das hielt ich vor meinen Eltern verborgen, machte gute Miene zum bösen Spiel. Nie würde ich jemandem gesagt haben, dass ich den Sport lieber heute als morgen aufgeben würde. Alles eine Frage des method acting, fünf Jahre lang. Ich nahm an, dass von mir erwartet wurde, dass ich Handball toll finden müsse. Ich nahm an, dass das alles nötig sei, um meine Eltern nicht zu enttäuschen. Damit sie stolz auf mich sind. Nie habe ich widersprochen, und ich habe mich insgeheim jedesmal gefreut, wenn das Training aus welchem Grund auch immer ausfallen musste.

Für mich war Handball nicht nur eine Zeitverschwendung, sondern es machte mich depressiv, ich füllte haufenweise Seiten meines Tagebuchs darüber, wie sehr es mich nervte. Man mag vielleicht denken, Mensch, warum hast Du nie etwas gesagt? Und meine Tante hat zu meiner Ma anscheinend auch öfters gesagt, merkst du denn nicht, dass der Junge da völlig falsch aufgehoben ist? Aber nein, sie merkten es nicht, und wann immer sie mich fragten, log ich ihnen vor, dass ich das gern mag.

Ich sagte in meiner Jugend so gut wie nie, was ich wirklich mochte. Was ich gern las, gern schaute, gern machte. Natürlich sagte ich niemandem, dass ich mich nicht für Mädchen interessierte. In unserer Familie wurde über viele Dinge nicht offen gesprochen, und ich habe nie gelernt, offen zu sprechen, sondern immer nur meinen Mund zu halten. Nicht, weil meine Mutter das explizit gewollt hätte, aber in ihren Erklärungen schwebte immer der Beisatz mit: "Was sollen denn die Leute denken?" Gerade, wo sie doch Grundschullehrerin im Ort war und es irgendwie negativ auf sie zurückfallen konnte. Ja, auch diesen Satz kannte ich zur Genüge: "Die denken dann, Mutter Hilarius kümmert sich nicht im ihre Kinder!"

Über die Jahre meiner Kindheit und Jugend lernte ich, wie ich mich verhalten musste, um meiner Mutter möglichst wenig Kummer zu bereiten. Ich wollte, dass sie glücklich ist, ich wollte, dass sie stolz ist, dass sie zufrieden mit mir ist. Ich war schön schräg genug durch die Dinge, die ich nicht verbergen konnte, und Schauspielerei hatte ich damals wie heute sehr gut drauf. Und so spielte ich fünf Jahre lang Handball. Ich quälte mich durch mindestens zweihundertfünfzig Trainingseinheiten, durch mindestens einhundert Spiele, in denen ich meinem Team nix als Stress bereitete, durch unzählige Turniere, die für mich die Hölle auf Erden waren, denn oft war es heiß und stickig, mein Kreislauf war im Eimer, da ich auch damals schon gut Essen und Trinken vergessen konnte, und ich musste nicht nur ein blödes Spiel überstehen, sondern derer mehrere, und keines von ihnen bereitete mir auch nur irgendwelche Freude.

Und ich habe oft allein in meinem Zimmer gesessen und meinen Frust in mein Tagebuch geschrieben, und ich bin nicht zu meinen Eltern gegangen, denn ich dachte, so muss ich eben sein. So habe ich mich zu verhalten, und wenn ich das nicht täte - was sollten denn die Eltern denken?

Nach fünf Jahren habe ich endlich den Mut aufgebracht, meinen Eltern einen Brief zu schreiben. Ich weiß nicht mehr, ob es dazu der Mutmachung meiner Tante bedurft hatte, ich weiß nicht mehr, was diesen Brief ausgelöst hatte. Ich habe meinen Eltern endlich all' diesen Frust geschrieben, all' diese Fehlannahmen ihrerseits aufgeklärt und dass ich mir nichts sehnlicher wünschte, als endlich mit dem Handballspielen aufhören zu dürfen. Und das war dann glücklicherweise das Ende dieser Phase. Ich wurde danach Mitglied der Musicalband meiner Schule, Dr Hilarius an den Synthesizern, und ich weiß, dass ein, zwei Leser dieses Atikels mich noch von genau dorther kennen. Das war toll, da habe ich mich wohl gefühlt, das entsprach mehr meinem Wunsch nach kreativem Schaffen.

Auch wenn es so klingt, als wollte ich hier meinen Eltern Vorwürfe machen - besonders meiner Mutter - und als würde ich mich auf diese Weise für alles angetane "Unrecht" rächen wollen: Darum geht es nicht. Ich weiß aus tiefer Überzeugung, dass meine Eltern es nie böse gemeint haben. Woher hätten sie wissen sollen, dass ich in dieser Phase gelitten habe? Ich habe nichts gesagt, mir nichts anmerken lassen. "Eine Mutter merkt sowas doch!" - ach ja? Weiß ich nicht, kann ich nichts zu sagen, diese hat es jedenfalls nicht bemerkt.

Ich glaube, ich möchte mit diesem Beitrag einfach nur darauf aufmerksam machen, dass es solche Situationen geben kann. Dass Ihr Euer Kind in ein Konzept einpassen wollt, das nicht zu ihm gehört. Dass Ihr meint, Ihr tut ihm etwas Gutes, indem Ihr seine Freunde, seine Kleidung und seine Freizeitgestaltung aussucht. Dass Ihr ihm zwar immer wieder sagt, es darf das alles selbst aussuchen, aber es traut sich nicht, weil es Euch liebhat, weil es Euch niemals traurig machen möchte.

Weil Ihr seine Eltern seid.

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