Sonntag, 16. Oktober 2016

Immersion - Das Boot (1981)


Alles dreht sich um Immersion. Lasst uns eintauchen in dieses Thema!

Und wir sind damit schon beim Wortursprung gelandet, nämlich dem lateinischen Verb immergere, das soviel bedeutet wie "eintauchen", "verschmelzen". Immersion ist der Versuch, den Rezipienten z.B. von Kunst mit dem Kunstwerk verschmelzen zu lassen, ihm das Gefühl zu geben, dass er Teil des Werkes wird. Ein konkretes Beispiel habe ich gestern im Heimkino genossen, den Director's Cut von Das Boot (1981).

Wolfgang Petersens Kriegsdrama - Suspense - Dokumentation - Reisetagebuch - wie möchte man es denn nun nennen? Jedenfalls ist es eine Lehrstunde in Filmtechnik und Filmkunst. Was gezeigt wird, ist Alltag im Jahr Neunzehnhunderteinundvierzig, eine deutsche U-Boot-Patrouille während des Zweiten Weltkrieges. Also eigentlich gar nichts Besonderes für die Menschen "da oben", die nicht an Bord sind. Die die Missionen verteilen und mehr nicht. Aber für die Besatzung des Bootes U-96 ist dies "eine Reise bis ans Ende des Verstandes" (wie es in der damaligen Tagline des Films heißt).

Über Wolfgang Petersen kann man lästern. Man kann sich beschweren, dass er jeglichen Ereignissen seinen eigenen Stempel aufdrückt, indem er sie erst implodieren, dann explodieren lässt, sie in Dimensionen verschiebt, ein paar Naturkatastrophen drüber hinweg jagt und noch eine Armee außerirdischer Raumschiffe vorbeifliegen lässt. Jeder professionelle Pyrotechniker freut sich, wenn Petersen wieder ans Werk geht, denn er scheint kein Mensch der stillen Töne zu sein. Das hat ihm auch der Verfasser der Romanvorlage, Lothar-Günther Buchheim, vorgeworfen, der von der Verfilmung seines Werks sehr enttäuscht gewesen sein soll. Da trifft amerikanisches Filmspektakel auf Popcorn-Kino, alles auf Kosten des Realismus, so sollen die Vorwürfe geklungen haben.

In der Tat, Petersen lässt Welten untergehen, amerikanische Weiße Häuser explodieren oder ein U-Boot versenken, und das macht er mit viel Getöse und, in diesem Fall, mit sehr viel Wasser. Wer das nicht mag, soll sich halt keinen Petersen-Film anschauen. Wer sich aber doch darauf einlässt, der wird mit Das Boot reichlich belohnt, auf vielerlei Ebenen.

Allein zwei Szenen spielen außerhalb des Bootes, das Auslaufen im Hafen La Rochelle (Abweichung von der Romanvorlage, aber - im Ernst - lassen wir uns davon aus der Ruhe bringen? Wir sind erstmal froh, eine Koje im Bauch des stählernen Grabes ergattert zu haben) und eine spätere Szene, in der nachgetankt und Reserven aufgefüllt werden. Ansonsten befinden wir uns unentwegt in der Enge des Bootes oder auf der Brücke. Petersen wechselt nicht die Fronten, er zeigt das Geschehen nie aus Feindessicht. Immer setzt er den Zuschauer direkt in die Crew, gerade um diesen Immersionseffekt zu erreichen, dass man sich beim Anschauen nämlich fühlt, als sei man einer dieser durchgeschwitzten, verwundeten, verdreckten, gelangweilten, auf Entzug gesetzten, halb wahnsinnigen Seeleute.

Und es wird sehr dreckig. So muss es auch sein: Es ist ein Kriegsfilm. Und zwar ein deutscher; bei einem amerikanischen wie z.B. Pearl Harbor (soviel zum Thema Popcorn, und dazu bitte mit Käsesauce überbackene Nachos) geht man von einer siegreichen Schlacht aus, und am Ende stehen der All American Hero und seine blondes Tittengehoppel strahlend vor einem Sonnenuntergang. Hier nicht. Nichtmal im Ansatz. Das Urteil, das der Film über Krieg fällt, ist vernichtend. Und richtig, und daher wichtig.

Wer hin und wieder gern deutsche Filme sieht, wird viele bekannte Gesichter an Bord treffen, so finden sich da unter anderem ein junger Herbert Grönemeyer, Uwe Ochsenknecht und viele weitere unter der Leitung von Jürgen Prochnow wieder, der einen phänomenalen Job abliefert, kein Wort mehr als nötig bringt und jedem erleichterten Aufatmen besondere Bedeutung gibt. Generell habe ich an den schauspielerischen Leistungen nichts auszusetzen. Ich glaube diesen Menschen, was sie da tun. Ich nehme ihnen die Anstrengung, die Verzweiflung, die Monotonie ab, all das wird überzeugend dargestellt. Die soliden Darstellungen der Schauspieler werden unterstützt von Licht, Sound und Musik, die hier wie ein professionelles Uhrwerk ineinander greifen.

Das häufige Umschalten der Bootsbeleuchtung von weiß zu blau zu rot zieht sich wie ein Leitmotiv durch den ganzen Film, und jede Beleuchtungsfarbe hat ihre eigene Atmosphäre. Richtig gut ausgeleuchtet sind in diesem Film nur jene oben erwähnten zwei Szenen, die außerhalb des Bootes spielen. Und wenn die Bootsbeleuchtung mal nicht ausreicht, werden Taschenlampen gezückt. Viele Unannehmlichkeiten der Reise, zum Beispiel schlecht versorgte Wunden, Infektionen oder hygienische Probleme, werden dadurch eher angedeutet als gezeigt und spiegeln auf diese Weise wider, wie unangenehm die Thematik ist. Wer den Film also des Abends oder Nachts schaut und jegliche Lichtquellen abschaltet, wird belohnt mit viel Dunkelheit - ein weiterer Faktor, der zum Immersionseffekt beiträgt.

Der Sound. Wenn man Wolfgang Petersen glauben darf, dann ist der Director's Cut tatsächlich die Version, die er dem Publikum darbieten wollte. Bild- und Tonqualität wurden hier drastisch aufgewertet und gründlich auf 5.1-Sound abgemischt, was bei einem Film dieser Art unabdingbar ist: Wer erreichen will, dass der Zuschauer sich als Teil der Crew fühlt, der muss es nicht nur vor ihm krachen lassen: Hinter sich hört er das Seufzen des Stahls, der unter dem Wasserdruck nachgibt. Hinten rechts hört er die Flüstereien der Crew. Links neben sich hört er das Blubbern des Wassers, vorne rechts hört er die Maschinen arbeiten. Und in einer besonders angespannten Szene hört er überall um sich herum das Ping des Sonars, als die Feinde Jagd auf U-96 machen. Komplette Stille, nur die eisernen Blicke der Crew und ab und an ein Ping...
Ich möchte an dieser Stelle also eindringlich klarmachen, dass dieser Film mit Surroundsound geschaut werden sollte. Wenn ein Film so sehr von Effekten abhängt wie Das Boot, dann muss man ihm die Möglichkeit geben, diese Effekte auszuspielen. Gerade in der Stille des Ozeans, auf dem Meeresgrund bei Gibraltar, trägt jedes einzelne Geräusch dazu bei, die Nerven der Crew und des Zuschauers einer Zerreißprobe zu unterziehen (das gilt natürlich eher weniger bei Zuschauern, die sich von Effekten unbeeindruckt zeigen, nicht wahr, meine Liebe?).

Und zuletzt die Musik. Das Hauptthema des Films dürfte den Kindern der Achtziger und Neunziger bekannt sein, nicht zuletzt durch Alex Christensens Remix, der damals durch die Charts geisterte. Während in der ersten Stunde die dramatische Streichermelodie noch etwas unpassend zu sein scheint - unpassend zu den Außenaufnahmen des Bootes, das bei recht gutem Wetter durch das Meer gleitet - so wirkt dasselbe Thema nach und nach immer unheilvoller, je mehr sich die Lage der U-96 verschlechtert, je düsterer das Wetter wird, je zermürbter die Crew ist. Irgendwann geht dem Zuschauer jeder Einsatz des Themas unter die Haut, und diese Wirkung habe ich ab der Hälfte des Filmes sehr genossen. Klaus Doldinger hat hier als Komponist großartige Arbeit geleistet.

Wie also oben erwähnt, greifen die schauspielerischen Leistungen, die Ausleuchtung, der Sound und die Musik überzeugend ineinander, um einen Kriegsfilm zu erschaffen, der eigentlich gar nicht vom Krieg handelt, sondern davon, was er mit Menschen anstellen kann. Ein psychologisches Drama, das von seinen intensiven Effekten getragen wird.

Ich kann keine allgemeine Empfehlung aussprechen für Leser des Buches, die von Buchheims Werk begeistert sind und nun einmal sehen wollen, wie die Verfilmung gelungen ist. Nicht nur, weil ich das Buch selbst nicht gelesen habe und damit meine Einschätzung jeder Grundlage entbehrte, sondern weil ich über die konträren Reaktionen von Autor und Publikum dem Film gegenüber gelesen habe. Wie oben beschrieben war Buchheim zutiefst enttäuscht von der Umsetzung seines Romans. Wie oben beschrieben gilt Das Boot als eines der besten Werke deutscher Filmgeschichte. Die einzige Mahnung, die ich dazu abgeben kann, ist, sich nicht die "originale" 149-Minuten-Kinofassung anzuschauen. Erst ab 208 Minuten im Director's Cut wird man ansatzweise angemessen auf die Reise mitgenommen, da sind sich viele Kritiker einig. Und mit vernünftigem Surround-Sound wird es erst richtig ungemütlich; einem Petersen-Film, der von Effekten lebt, darf man nicht mit mangelhafter Technik-Ausstattung die Lebensgrundlage entziehen. Das ist, als würde man anstelle der echten Mona Lisa einen Schwarzweiß-Abdruck in der Tageszeitung betrachten: Die Wirkung ist einfach nicht dieselbe. Stendhal (manch einem besser bekannt unter seinem richtigen Namen Marie-Henri Beyle) konnte ein Lied davon singen.

Gute Reise!

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