Samstag, 15. Oktober 2016

Die Tasche


Filmfreaks werden bei diesem Titel vielleicht eine ganz bestimmte Assoziation haben. Richtig. Tom Tykwers Film Lola Rennt, meiner Meinung nach pädagogisch wertvoll, hier aber nur am Rande referenziert. Denn während im Film Manni und die schicksalsträchtige Tasche auseinanderdriften, werden an diesem Tag Dr Hilarius und eine verdächtige Tasche zusammengeführt.



Alles Teil eines Wochenendes, an dem ich abschalte, runterfahre, den Kopf freizuräumen versuche, von Allem. Schule. Soziale Kontakte. Soziale Netzwerke. Verantwortlichkeiten. Um dann endlich in Ruhe neustarten zu können. Ich hoffe, meine Freunde verstehen, dass ich momentan ein bisschen Abstand brauche - es waren einfach zu viele Menschen. Und so betrete ich heute, auf der Flucht vor Menschen, um viertel nach zwölf den Bus, Linie fünfhunderteins nach Strande.

Die Tasche steht schon da. Sie wartet schon längst, als ich den Bus betrete. Ich habe keine Eile - eigentlich hätte ich sie, mein Kopf hat immer Eile, aber die ältere Dame mit dem Krückstock vor mir hat keine Eile, und ich werde sie wohl nicht mit Schwung in den Bus schieben, damit ich endlich an den mir zugedachten Platz komme. Sie hilft mir, unbewusst, mich zu zügeln. 

Der Bus ist voll, kein Sitzplatz mehr frei, langsam füllt sich auch der Mittelgang an der Haltestelle Diesterwegstraße. Ich bin in Gedanken bereits so sehr im Nachmittag, dass ich nicht daran denke, eine günstigere Kurzstreckenkarte zu lösen, und ich realisiere erst viel später, dass Denken Geld kosten kann. Und so gehe ich zum Gelenkteil des Busses, um mir einen Stehplatz zu holen. Das mache ich gern, denn meine Stiefel, Schuhgröße fünfzig, passen nicht immer in diese engen Sitzplätze. Mal ganz davon abgesehen, dass heute eh' kein Sitzplatz frei ist, aber auch wenn da einer wäre, würde ich lieber stehen, 2,01m groß, inklusive Stiefel.

Was interessieren mich die Leute, und doch schaue ich einmal kurz, um nur eben zu registrieren, wie viele mich mit misstrauischen Blicken anschauen wie einen Schwerverbrecher, wohl nur wegen der Kleidung und den schwarz lackierten Fingernägeln. Jaja, habt Angst vor mir. Und nachdem ich mich dessen vergewissert habe und zur Unterstützung noch eine finstere Miene aufgesetzt habe, blicke ich nach unten und sehe die Tasche.

Sieht aus wie eine Armeetasche, ein dicker Stoff in hässlichem Tarngrün. Eine große Tasche. Sie steht ein wenig herrenlos in dem Busgelenk. Von Aussehen und Stil her scheint keiner der Fahrgäste zu ihr zu passen. Auch schaut niemand hin und wieder zu der Tasche, als würde sie ihm gehören. Sie stand schon dort, als ich den Bus betreten habe, und ich weiß nicht, wie lange sie dort schon stand. Und mir wird bewusst, dass wir seit einigen Jahren deutlich anders auf eine herrenlose Tasche in Bus und Bahn und Bahnhof blicken als früher noch.

Von Haltestelle zu Haltestelle kämpft der Bus sich durch Regen und Verkehr und ich kann nicht anders, als immer wieder zu der Tasche zu schauen, und ich mag gar nicht glauben, dass niemand prüfende Blicke zu der Tasche wirft. Hat etwa ernsthaft jemand sie dort abgestellt, hat vielleicht schon vor ein paar Halten den Bus verlassen und wartet jetzt drauf, dass die Linie fünfhunderteins am Hauptbahnhof ankommt, um dort möglichst viele Passanten am Spektakel teilhaben zu lassen?

Je näher der Bus an den Bahnhof kommt, je weniger Zwischenhaltestellen auf dem KVG-Flachbildschirm angezeigt werden, umso unruhiger werde ich ich nun doch. Dass die Tasche nach wie vor herrenlos wirkt, macht die Sache nicht besser. Naja, vielleicht ist es jemandes Reisetasche und er, sie oder es wird am Hauptbahnhof damit aussteigen, um seinen Zug zu bekommen, ist doch ganz alltäglich, rede ich mir beruhigend ein, kann aber nicht verhindern, dass es mir unter meinem schwarzen Outfit langsam etwas zu warm wird.

Der Bus fährt von der letzten vorbahnhöflichen Haltestelle Hummelwiese ab, das Sophienblatt runter zum Hauptbahnhof. Der STOP-Knopf ist längst gedrückt, vermutlich mehrfach und eigentlich unsinnigerweise, denn die Busse halten dort immer und öffnen in der Regel auch ohne Knopfdruck all ihre Türen. Und die Fahrgäste, die aussteigen wollen, begeben sich sehr rechtzeitig zu den Ausgängen, es könnte ja sein, dass sie nicht mehr aussteigen dürfen, wenn sie sich nicht rechtzeitig einen Platz in der Schlange sichern. Und je länger diese Schlangen werden, umso sehnsüchtiger warte ich darauf, dass jemand die Tasche an sich nimmt, um meinen Verdacht der herrenlosen Tasche mit gefährlichem Inhalt zu zerstreuen.

Doch nichts passiert. Mir wird noch wärmer, wir kommen dem sich auf durchschnittlichem Kieler Architekturniveau befindenden Hauptbahnhof (mir bewusst dank der Design-Vorlesung an der Uni) immer näher, dem Zentrum des samstäglichen Treibens, dem perfekten Ziel für so eine gefährliche Tasche, und langsam, aber sicher, möchte ich nur noch raus, *bevor* irgendwas passiert. Ich reihe mich in die Schlange ein, Multikulti, ein Zusammenleben, das ich toll finde, werfe immer wieder einen Blick auf die herrenlose Tasche, die niemand sich krallen möchte, denn sie gehört keinem Fahrgast, der hier am Hauptbahnhof den Bus verlässt. Somit sind weitere Hoffnungen einer entspannten Auflösung der Situation zerschlagen. 

Ich schalte meinen Gehirn-Tunnelblick ein, Gedanken und Blicke nur noch auf den Ausgang gerichtet, nur noch auf mein Ziel: Sophienhof. Ich denke an nichts Anderes mehr, ich sehe nichts Anderes mehr. Ich verlasse den Bus... endlich werde ich von der erfrischenden, rettenden Freiluft umschmeichelt, tief durchatmend entferne ich mich zügig von dem unheilvollen Gefährt. Ich gehe direkt zu meinem Reiseziel, blicke zurück zum Bus, niemand hat mit dieser Tasche den Bus verlassen. Sie ist noch immer im Bus, und dann passiert es...



...die Türen schließen sich und der Bus fährt weiter. Und mir wird bewusst, wie unsinnig all diese Gedanken eigentlich waren. Dennoch sind sie für mich ein interessantes Indiz, zum einen für das Älterwerden mit den zusätzlichen Sorgen, die man sich hier und da macht, und zum anderen für die sich wandelnden Zeiten, in denen wir leben. Ich erledige meine Einkäufe und steige in den Bus zurück nach Hassee. Und bin fast ein wenig enttäuscht und gelangweilt...



...dass ich diesmal keine herrenlose Tasche entdecken kann. Denn... mit Rückblick auf den Beginn dieses Artikels... es hätten ja auch einhunderttausend Deutsche Mark darin stecken können. Genug Geld, um eine Reisetasche-Bus-Bombe zu bauen. Oder ein neues Auto zu kaufen, was mir beim Nachdenken wesentlich sinniger erscheint.

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