Dienstag, 25. Oktober 2016

Der Wanderer - Eine Schauermär


Der Herbst hält Einzug, die Bäume schütteln ihr Laub herab, die Sonne zeigt sich dieser Tage nur kurz - wenn überhaupt. Die Menschen bleiben in ihren Häusern, wo es warm und trocken ist und der Regen an die Fensterscheiben prasselt. Früh schon wird es dunkel, aber in dieser Jahreszeit wird der graue Himmel an manchen Tagen nie wirklich hell. Es ist die Zeit der warmen Jacken und Stiefel. Es ist die Zeit des Regens, des Windes, der Dunkelheit. Es ist die Zeit des Wanderers.

Die Mutter zieht ihre Tochter dichter an sich, während sie über das Herbstlaub den Heimweg von ihren Einkäufen antreten. Auch heute regnet es, und sie tragen beide Regenjacken, Einkaufstaschen in den Händen. Die Mutter ermahnt ihre Tochter, nicht zu schnell zu laufen: Durch die nassen Blätter ist es rutschig geworden und der Weg ist im abendlichen Dunkel nicht mehr gut zu erkennen. Baumwurzeln haben hier und da den Weg aufgebrochen und drohen dem allzu unachtsamen Schritt.

Auch der Wanderer ist unterwegs. In dieser Atmosphäre wirkt er furchteinflößender als sowieso schon. Er trägt eine Kutte wie Gevatter Tod selbst, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Niemand kann einen Blick seiner Augen erhaschen. Bei jedem Schritt klirren die Metallteile an den Stiefeln des Wanderers, um seine Anwesenheit zu verkünden. Er geht schnell, blickt dabei stets nach unten, schaut sich nicht um, grüßt nicht, hält die Hände in der Kutte verborgen. Niemand wird ihn aufhalten.

Er wandert stadtauswärts, weg von den Lichtern der Häuser, hin zum Dunkel der Bäume des Drachensees. Zwischendurch überlegt er, ob er eine Pause machen soll, aber ihm wird bewusst, dass er nicht mehr anhalten kann. Es ist zu spät. Dennoch zügelt er das Tempo seiner Schritte und atmet dabei tief durch. Es gibt kein Zurück. Wenn er jetzt nicht sein Ziel erreicht, wird er einen grausamen Hungertod sterben. Denn er hat mal wieder nicht nachgedacht und vergessen, Nahrungsmittel einzukaufen. Doch dort hinten, durch das Dunkel der Nacht, scheint das Licht der Hoffnung ihm entgegen, hoch oben, weithin sichtbar, verspricht es Rettung für all jene Seelen, die zu spät merken, dass ihnen noch etwas fehlt. Denn EDEKA hat bis 21.30 Uhr geöffnet und seine Leuchtreklame lockt Wanderer von nah und fern herbei - Wanderer wie ihn.

Er muss diese Mission allein absolvieren, denn sein treues Ross, La Buba, weilt fröhlich klospülend im Paradies des Komponisten Verdi. Es sollte sich als recht kompliziert erweisen, denn etwas ist mit dem Wanderer nicht in Ordnung. Die Mutter und das Kind haben schon von Weitem ein Schwanken im Gang des riesenhaften, furchterregenden Wanderers entdeckt. Das ist ja erstaunlich, es wirkt, als habe der Wanderer zuviel getrunken! Dabei trinkt er seit vielen Monaten keinen Alkohol mehr, auch und gerade wegen solcher Missionen wie dieser heutigen auf dem Weg zum heiligen Gral der Fertigpizza.

Er dachte, er wäre klarer im Kopf. Als er seine Wohnung verließ, schien alles noch in Ordnung zu sein. Auf dem Weg durch das endlose Treppenhaus half ihm das Treppengeländer, das ihm festen Halt in den Wogen des verlorenen Gleichgewichts gab. Im Erdgeschoss angekommen dräute es ihm, als er das Geländer loslassen musste: Dies wird keine einfache Mission. Aber solange er einfach nur wandern musste, sollte es keine Probleme geben, und so ist er den Weg zum Supermarkt fast reibungslos und unfallfrei gewandert. Und die Mutter hat ihr Kind rechtzeitig aus dem Kollisionsbereich der schwankenden Silhouette des Wanderers gezogen; was auch immer sie dabei gedacht haben mochte, sicherlich ordnete sie ihn im Bereich gewaltbereiter Erwachsener ein, denn sie ist eine Anhängerin der heiligen Religion des Mainstream. Schakkeline, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe wie bei Aldi, so auch bei Rossmann. Doch der Wanderer hat dieser Religion entsagt und wird seither als Anti-Normalbürger gebrandmarkt.

Sein Puls wird schneller, seine Schritte auch, all das geschieht ohne sein Bewusstsein. Ist es, weil das Ziel naht? Durch den Regen streift der unheimliche Wanderer in weiser Voraussicht am Rande des Parkplatzes Richtung Eingang. Es ist zwar spät, dennoch fahren vereinzelte Autos auf dem Parkplatz umher und er hat Angst, dass er trotz seiner Größe übersehen werden könnte, seiner schwarzen Kleidung geschuldet, auch befürchtet er, dass sein Schwanken ihn direkt vor die Motorhaube eines herannahenden Wagens werfen könnte. Noch immer blickt er sich nicht um, schaut in stoischer Ruhe auf die vor Nässe glänzenden Steine, mit denen sein Pfad gepflastert ist. Das Leuchten kommt immer näher, nun endlich blickt er auf und atmet erneut tief durch, versucht, das Tempo seiner Schritte unter Kontrolle zu bekommen. Er hört vereinzelte Stimmen, kein Zweifel, er hat es gleich geschafft. Die Schiebetüren des Supermarktes stehen offen, als erwarte alle Welt die Ankunft des Wanderers. Welch Glück für ihn, keine Hindernisse im Weg, der Einkauf kann beginnen.

Doch da! Ein junges Pärchen kommt ihm entgegen und nimmt fast die gesamte Breite des Eingangs in Anspruch - was soll er nur tun, er kann nicht anhalten! Und es wird noch verzwickter, denn von hinten nähert sich jemand mit noch schnelleren Schritten und drängelt sich zur Rechten an ihm vorbei. Er spricht mit nicht einheimischer Zunge, was hat der junge Mann für ein Problem? Der Wanderer wird nach links gestoßen, kann nicht anhalten, von vorne kommt das junge Pärchen. Heldenhaft - oder orientierungslos - wirft der Wanderer sich weiter nach links in die ausgestellten Süßwaren, damit das Pärchen nun ohne Mühe rechts an ihm vorbeigehen kann. Was mögen sie nur denken? Der Wanderer schaut nach vorn, doch seine Schritte ziehen ihn immer weiter nach links und er schafft es nicht, den Gang zu bremsen, er fängt an, zu stolpern und auf dem glatten Boden des Supermarktes tun die nassen Blätter unter den Gummisohlen seiner schweren Stiefel ihr Übriges und er fällt kopfüber in die Mandelspekulatius. Sie schaffen es allerdings nicht, seinen Sturz zu bremsen, denn seine hünenhafte Gestalt reißt alles in seinem Weg mit, und so stürzt der Wanderer mit einem Berg aus Gebäcktüten gegen die Glaswand des Eingangs, begraben unter Millionen von tonnenschweren Kalorien.

Hoffentlich hat das keiner gemerkt! Der Wanderer, nun endlich zum Stillstand gekommen, kniet auf dem Boden und blickt sich um in Erwartung des Chaos, das er angerichtet hat - doch es ist nichts zu sehen. Hat er sich das etwa alles nur einbebildet? Sein Puls rast, und abermals versucht er mit tiefen Atemzügen, seinen Körper und Geist unter Kontrolle zu bekommen. Er richtet sich wieder auf, stützt sich dabei an der Wand ab. Ihm wird klar, dass er nur ausgerutscht ist, es ist nichts weiter passiert und es hat auch niemand bemerkt. Was für ein Glück, denkt sich der Wanderer, wischt sich die Hände an der Hose ab und setzt seinen bedrohlichen Marsch zu den Fertiggerichten fort. Zunächst nur ganz langsam, mit kleinen, vorsichtigen und unsicheren Schritten, doch es dauert nicht lang, bis er wieder das gewohnte Tempo erreicht hat, inklusive der vereinzelten Schwankungen.

Hier, im hellen Licht der Neonröhren, bleibt sein Zustand nicht unbemerkt, und er bekommt mit, wie manche Kunden in ihrem Gespräch innehalten, während er an ihnen vorbeigeht, jeder Schritt begleitet von dem metallischen Klirren seiner Schuhe, den Blick wieder nach unten gerichtet, doch im Trockenen nun ohne die Kapuze seiner furchterregenden Kutte. Er ist sich bewusst, dass die größte Herausforderung seiner Mission immer näher kommt: Er wird stillstehen müssen, vor dem Kühlregal und auch später an der Kasse, zwei Meter groß und schwankend, und er wird nach dem Portemonnaie greifen müssen - er hebt seine Hand und versucht, sie still zu halten, doch es will ihm nicht gelingen: Die Finger zittern unkontrolliert, wie soll er später nur bezahlen? Ob er einfach der Kassiererin das Portemonnaie in die Hand drücken soll? Sein treues Ross, Buba La Tätta, übernimmt diese Aufgabe für gewöhnlich, doch widmet sie sich gerade hysterischen, fetten, schreienden Frauen (aber kein Besuch bei Sanni), sie wird ihm nicht helfen können.

All diese Gedanken tragen ihn in den hinteren Bereich des Supermarktes, die Kühltruhe kommt immer näher, es wird Zeit, anzuhalten. Aber wie? Diesmal ist kein rettender Stapel Mandelspekulatius in Sicht, in den er sich stürzen könnte. Vielleicht hilft es ja schon, wenn er sich an der Kühltruhe festhält, und so greift er mit der rechten Hand nach den archaisch anmutenden Einrichtungsgegenständen. Leider hilft es ihm nicht dabei, seinen Schritt zu verlangsamen, und so geht er immer weiter, bis die Reihe der Kühltruhen zu Ende ist. Längst ist er an der Pizza vorbeigegangen, und nun? Die Hand bleibt weiter an den Geräten, während er um die Ecke geht und auf der anderen Seite den Weg zurück antritt - genügend Zeit, um zu überlegen, wie er es gleich schaffen soll, anzuhalten. Die Dame an der Fleischtheke beobachtet ihn amüsiert - oder hat auch sie Angst vor dem unberechenbaren Wanderer?

Der zweite Anlauf, diesmal wird er es schaffen und drosselt seinen Schritt bereits beim Tiefkühlgemüse, um an den Pizzen zum Stillstand zu kommen. Er nimmt die zweite Hand zur Hilfe und stützt sich mit beiden Armen an der Kante der Truhe ab, endlich ist es geschafft. Doch ach! Die Auswahl! Welche Sorte soll er nehmen? Er sieht eine ihm bisher unbekannte Sorte, möchte sich ein Stück weit vorbeugen, um die Schrift auf der Verpackung besser lesen zu können. Doch in diesem Zustand gibt es für ihn kein "ein Stück weit", und so beugt er sich, weiterhin abgestützt, tief nach vorne, als wolle er den Kopf zwischen den Pizzakartons verbergen. Er schafft es nicht, rechtzeitig zu stoppen - und knallt mit der Stirn gegen die Glasabdeckung der Truhe. Das dumpfe Geräusch von Holz auf Glas bleibt zum Glück unbemerkt, der Wanderer genießt das kühle Glas an seiner Stirn, doch richtet sich zügig wieder auf. Seine Beine zittern. Wäre er doch nur in seinem sicheren Heim! Seine Beine zittern immer stärker, als plagten ihn Krämpfe, und er hat Angst, gleich zu stürzen, also drückt er die Knie fest gegen die Truhe und es hilft. Dazu atmet er laut hörbar ein und aus in dem Versuch, seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Er entscheidet sich schnell für zwei Pizzen, dankenswerterweise musste er nicht das gesamte Sortiment durchsuchen, wo er seinen Blick ja doch nicht für eine Minute lang auf einen Punkt fixieren kann; die roten Preisschilder verkünden ihm Sonderangebote, und so nimmt er seine Nahrung und eine Tiefkühltasche mit. Allein der Vorgang, die beiden Pappkartons in die Tasche zu bekommen, wäre ein oscarverdächtiges High Suspense-Drama wert, Schachteln und Tasche scheinen ein seltsames Eigenleben entwickelt zu haben - der Wanderer schafft es schließlich und setzt bedächtig seine Beine wieder in Bewegung. Er ist beruhigt: Das Gehen fällt ihm wesentlich leichter als das Stehen, und so wandert er viermal um die Regale mit den Tütensuppen, um sich unter Kontrolle zu bekommen.

Er hat es fast geschafft, die Blicke der Kunden lassen ihn kalt, er geht zur Kasse und ist erleichtert: Vor ihm steht ein offenbar sturzbetrunkener Mann, sehr gut, so schlimm geht es dem Wanderer dann doch nicht, denkt er bei sich und lächelt selig, während er versucht, die Pizzakartons aus der Tasche zu bekommen. Er versucht es, wird dabei mit den Händen immer gewalttätiger, und als er die widerspenstigen Teile endlich mit einem Ruck aus der Tasche befreit, stößt er mit dem Ellenbogen in das Süßigkeitenregal hinter sich. Ein Fach wird um etwa sechzig Zentimeter der Länge nach vom Inhalt befreit. Er kann nicht mehr.

Das ist der Moment, in dem der Wanderer zum ersten Mal während seiner Mission zu reden beginnt. "Oh ne, scheiße", legt alles auf das Laufband, möchte sich umdrehen, aber er ahnt schon, dass er das im Stehen nicht mehr schaffen wird. Unbeholfen blickt er die Kassiererin an, stottert "E-e-e-entschuldigen s-s-sie", er atmet tief durch, schließt kurz die Augen, "mein Kreislauf ist im Eimer, das tut mir leid", und dabei stützt er sich mit beiden Armen auf dem Laufband ab. Oder, er versucht es - greift daneben und sucht stattdessen am EC-Karten-Lesegerät Halt. Das jedoch hält dem zwei Meter großen Wanderer nicht stand und bricht Richtung Kasse aus seiner Halterung - was nicht weiter schlimm wäre, wenn nicht der Wanderer dadurch mit seinen Händen bis auf das Laufband durchbräche und für eine Entgleisung des Gummibandes sorgte. "Soll ich ihnen einen Arzt...", aber sie wird unterbrochen.

Denn... das Laufband ist diese außerordentliche Belastung nicht gewohnt, der Motor zieht mit aller Macht, kann aber das Laufband nicht weiter bewegen, da der Wanderer mittlerweile sabbernd quer über der Kasse liegt. Funken sprühen aus der Kassenmaschinerie hervor und greifen über auf die Zigarettenauslage. "Helga, kommst du mal Kasse 4!" trötet die genervte Kassiererin in das Mikrofon, doch ach! Der Wanderer, in seinem Ringen um Gleichgewicht, rollt sich von dem mittlerweile gerissenen Laufband ab, rempelt dabei aber die Kassiererin an, die vornüber kippt und sich gierig über das Mikrofon wie über eine Eistüte hermacht.

Dort Husten, hier Funken, da Knallen, und der Wanderer möchte einfach nur noch nach Hause und seine Pizza aufbacken, der Schädel dröhnt, die Kassenmaschine jault, die Kassiererin krächzt und die leiderprobte Hasseer Notfallsirene beginnt ihre ohrenbetäubende Arbeit. Er nimmt die Pizzen, eine in jede Hand, hinterlässt die Tiefkühltasche der hysterischen Zigarettenkartenfrau, die versucht, die Mikrofonkassiererin wiederzubeleben, and finally all hell breaks loose.

Der Herbst hält Einzug, die Bäume schütteln ihr Laub herab, die Sonne zeigt sich dieser Tage nur kurz - wenn überhaupt. Die Menschen bleiben in ihren Häusern, wo es warm und trocken ist, denn die EDEKA-Filiale in Hassee brennt lichterloh und der Regen kann den geöffneten Fließbandkassen-Höllenschlund nicht beruhigen.

Und der Wanderer wandert seines Weges. Und nimmt sich vor, nächstes Mal die Buba mitzunehmen, wenn der Bedarf entsteht. Doch es wird noch etwas dauern, bis der Hasseer Höllenkrater wieder mit Supermarkt und Parkplatzfläche bebaut werden kann.

Nehmt Euch in Acht vor dem Mann in Schwarz...

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