Was passiert im Kopf vor, während und nach der Explosion? |
1.Phase: Overload (Überladung)
Es passiert zu viel zur selben Zeit: Visuelle Impulse, unerwartete Anblicke, zu viele Geräusche, zu viele verschiedene Stimmen und Sachen, die im Kopf ablaufen. Da diese Dinge nicht abgearbeitet werden können, stapeln sie sich im Aspi-Kopf und er rast exponentiell auf die zweite Phase zu. Bei mir merkt man es daran, dass ich ruhig werde und nicht mehr rede. Sollte ein Aspi-Schüler in dieser Phase Stimming betreiben (repetitive Bewegungen, Schaukeln mit dem Körper, mit den Händen wedeln, summende Geräusche von sich geben und so weiter), sollte man ihn das tun lassen, denn das ist die beste Art, der nächsten Phase vorzubeugen.
2.Phase: Meltdown (Kernschmelze)
Dieser Phase vorzubeugen, scheint einfacher zu werden, wenn man älter wird, aber ganz lässt es sich nicht vermeiden, dass der Input-Overload zu einem Ausbruch führt. Der Aspi schreit oder schlägt um sich oder bricht in Weinkrämpfe aus - oder alles zusammen. Er sieht keine andere Möglichkeit, sich gegen die vielen Gedanken zu wehren. Von außen wird dieses Verhalten oft als überdramatisch gesehen - was daran liegen könnte, dass es für den Aspi dramatisch ist.
3.Phase: Shutdown (Abschaltung)
Manchmal macht der Aspi nach dem Wutausbruch komplett dicht. Er redet nicht mehr, wendet sich von allem ab. Man sollte ihn jetzt in Ruhe lassen, bis er von sich aus wieder den Kontakt sucht oder es zumindest zulässt, dass man ihn anspricht. Bei mir dauert diese Phase je nach Intensität des Meltdown zwischen drei Stunden und drei Tagen.
Ich fand es interessant, das vor einigen Wochen zu lesen, weil ich es bei mir selbst immer wieder beobachten kann, sei es nun bei einem Wutausbruch im Klassenzimmer (dann gewöhnlich ohne die Shutdown-Phase), bei einer Panikattacke (die bei einem Overload gewöhnlich mit Stimming abgefangen wird) oder bei einem Nervenzusammenbruch. In letzterem Fall beobachte ich bei mir alle drei Phasen, und ich erzähle als Beispiel von jenem Zusammenbruch vor einigen Jahren, von dem ich vorgestern geschrieben hatte.
An jener Schule hatte ich angefangen mit der Aussicht, über eine Vertretung hinaus nach Ablauf des Schuljahres eine Planstelle zu bekommen, oder zumindest eine Verlängerung. Auf dieser Gewissheit hatte ich meine Schulzeit aufgebaut, das hat mir etwas Sicherheit gegeben und vor allem dabei geholfen, dass ich entgegen dringender Bitten ausschließlich in den Klassenstufen Fünf bis Sieben eingesetzt worden bin.
Dort ist es zwar zweimal zu den Overload-bedingten Wutausbrüchen gekommen - Schüler von allen Seiten geben mir zu viele Impulse, die ich nicht verarbeiten kann, ich spiele mit etwas oder knacke mit meinen Fingern, um mich zu beruhigen (Stimming), manchmal reicht das aber nicht und dann schreie ich für Schüler völlig unerwartet alles heraus. Termin bei der Schulleitung.
Die wirklich interessante Szene kam aber, als ich kurz nach den Osterferien bei der Schulleitung saß, um das nächste Schuljahr ein wenig zu planen - welche Projekte oder AGs ich vielleicht machen könnte. Der SL reagierte ein wenig verwirrt:
"Wieso nächstes Jahr? Ich dachte, dein Vertrag läuft zum Ende des Schuljahres aus?"
Erster gedanklicher Stolperstein, Zug entgleist zwar noch nicht vollkommen, aber ich blicke mich etwas hilflos im Büro um, um den Faden wiederzufinden, und sage:
"Naja, XY meinte bei der Einstellung zu mir, dass ich länger bleiben kann."
"Das kann ich mir gar nicht vorstellen, wir haben genug Englischlehrer, mit deiner Fächerkombination bist du nicht mehr interessant für uns."
Overload: Das sind zu viele Gedanken auf einmal, die ich nicht verarbeiten kann. Ich bin nicht mehr als eine Fächerkombination? Warum hat XY gesagt, ich könne bleiben? Warum weiß der (neue) SL nichts davon? Arbeitslosigkeit. Antrag stellen. Wieder eine neue Schule suchen. Ich rede nicht mehr. Ich schaue mich hektischer im Raum um, mein SL legt nach:
"Deswegen haben wir dich auch fest bei der Verabschiedung im Sommer eingeplant, weißt du nichts davon?"
"Nein. Ich möchte nicht zu der Verabschiedung kommen. Ich möchte mir nicht schon wieder anhören müssen, dass ich doch bestimmt schnell eine neue Schule finde. Kannst du mich da bitte ausplanen."
"Also das fände ich jetzt aber nicht in Ordnung von dir. Die Kollegen möchten sich schließlich von dir verabschieden können."
Meltdown: Jetzt bekomme ich auch noch den schwarzen Peter zugeschoben. Dafür, dass ich mich der Demütigung im Kollegium nicht aussetzen möchte. Fuck you. Ich merke, wie meine Gesichtsmuskeln sich verkrümmen. Ich möchte etwas gegen die Wand werfen und laut werden.
"Ich gehe dann mal, wenn es nichts weiter gibt."
Das sage ich zu dem Standventilator in der Ecke, weil ich meinen SL jetzt nicht anschauen kann. Ich nehme meine Sachen, schaue konsequent auf den Fußboden und navigiere meinen Weg durch das Schulgebäude in mein Auto. Auf der Fahrt nach Hause fange ich an zu heulen, kann mich kaum auf den Verkehr konzentrieren, versuche noch irgendwie durchzuhalten.
Zuhause angekommen folgt dann der totale Zusammenbruch. Egal, was ich mache, Videospiele, Musik hören, baden, ich kann nicht mehr aufhören mit den Tränen und mein Körper verkrampft immer weiter. Drei Stunden später wird es endlich weniger. Ich ziehe das Telefon raus, verziehe mich in die Videospiele und bekomme von meiner Umwelt nichts mehr mit.
Shutdown: Drei Tage lasse ich das Telefon ausgestöpselt, lese keine Mails und öffne keine Briefe mehr. Ich versuche jeglichen Input von außen zu vermeiden, ich will niemanden sehen, hören oder lesen, ich will einfach nur meinen Kopf aufräumen und wieder zur Ruhe kommen. Diese Phase ist besonders schlimm, denn jeder Brief, der durch den Schlitz geschoben wird, und jede neue Nachricht, die mir angezeigt wird, erhöht den Druck auf meinen Schultern.
Drei Tage später bin ich wieder in Ordnung. Das Telefon lasse ich weiter abgeschaltet, brauche ich nicht. In der Schule schaue ich nur noch auf den Boden, habe mein weißes Outfit an, die Schüler wissen, was das bedeutet.
Das ist bisher nicht nur einmal vorgekommen. So ging es mir nach meiner mündlichen Examensprüfung in Englisch, so ging es mir nach meinem Dienstleitergutachten im Referendariat und insgesamt an fünf von sieben Schulen. SPO nicht, und KGS auch nicht.
Was bedeutet das für uns als Lehrer? Mit etwas Glück hat der Aspi eine Schulbegleitung, die genau weiß, was zu tun ist. Ansonsten: Sobald sich der Meltdown ankündigt (auf repetitives Verhalten zur Beruhigung achten) - und spätestens danach, den Schüler von der Lerngruppe isolieren, ihn in eine ruhige Ecke bringen, am besten einen isolierten Raum, zur Not Kopfhörer aufsetzen, damit er nichts hören muss, und ihn zehn bis zwanzig Minuten beruhigen lassen.
Und nicht mit blöden Sprüchen kommen wie "Daran muss er sich gewöhnen, so ist das Leben nun mal."
post scriptum: Jemand hat mir gesagt, dass das Schulsystem uns alle kaputt mache. Ich dachte erst, dass das nur eine der üblichen Phrasen sei, mit denen man um sich wirft - aber es scheint eine ganze Menge mehr dran zu sein. Vielleicht wäre der Austritt aus dem Schulsystem eine Möglichkeit, sich dem nicht mehr auszusetzen und fertig machen zu lassen.
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