vorweg: Dieser Artikel hat grünes Licht von allen beteiligten Personen bekommen.
Wie fühlt es sich an? Als LGBTQ-Teenager auf eine Schule zu gehen, in der einem unentwegt klar gemacht wird, dass das "nicht normal" ist. Dass es irgendwie falsch ist und man sich anpassen muss?
"Oh ja, das muss schlimm sein, das kann ich gut nachvollziehen."
"Nein, das kannst du nicht."
Du sagst es, um mir ein wenig von der damaligen Last und dem damaligen Schmerz zu nehmen, eine Art Höflichkeit oder Freundlichkeit. Aber:
Kannst Du es nachvollziehen? Wie es ist, sich jeden Morgen zu wünschen, krank zu sein, damit man nicht in die Schule gehen muss, und zwar nicht wegen der zu lernenden Inhalte? Wie es ist, auf der morgendlichen Busfahrt in die Schule auf den Fußboden zu schauen, in die eigene Kopfwelt zu verschwinden und die letzten zwanzig Minuten Frieden des Tages zu genießen? Aus dem Bus auszusteigen, und auf dem Weg in den Klassenraum einfach nur noch Angst zu haben? Angst davor, bestimmte Mitschüler zu sehen? Angst vor den Sportstunden? Angst davor, mit Stiften und anderen Sachen beworfen zu werden, weil Du anders bist? Angst davor, während des gesamten Vormittags keine Möglichkeit zu haben, aufzuatmen? Keinen Ort, an dem Du OK bist, so wie Du bist? Angst davor, von anderen Schülern gemobbt zu werden und am Ende dafür auch noch selbst Ärger vom Lehrer zu bekommen, Woche für Woche für Monat für Jahr? Mit Deinem Kopf in einem Rätselheft zu verschwinden, compartmentalizing, um nicht in der Stunde vor achtundzwanzig Mitschülern anzufangen zu heulen? Das grenzenlose Aufatmen, wenn Du nach der letzten Stunde endlich den Klassenraum verlassen kannst? Wenn Du weißt, dass auf der Rückfahrt im Bus wildfremde Schüler versuchen werden, Dir Drogen zu verkaufen, einfach nur um Dich zu verarschen, aber das stört Dich schon gar nicht mehr, weil es nichts ist im Vergleich zu der Folter, in der Schule absolut niemanden und absolut keinen Ort zu haben, um das alles mal herauszuschreien? Wenn Du im Supermarkt von einem wildfremden Mann angesprochen wirst, der Dir anbietet, ein Schwulenmagazin für Dich zu kaufen? Dein Tagebuch ausschließlich zu nutzen, nicht um täglich etwas zu schreiben, sondern um fünfzehn Jahre lang nur all' das hineinzuschreiben, was Du durchmachen musstest an diesem Tag, in dieser Woche? Wenn es sich anfühlt, als würde in Deinem Kopf jeden Tag eine Atomexplosion rückwärts ablaufen, wenn Du all' diese Wut, diesen Frust, diese Angst und Trauer so weit in Dich hineinsaugst, dass Dein Kopf irgendwann nur noch aus Atombomben kurz vor der Explosion besteht? Und Du hast nirgendwo die Möglichkeit, endlich einmal den Zünder zu drücken und das alles loszuwerden?
Kannst Du das wirklich nachvollziehen?
Wenn ja, dann kannst Du es auch verstehen, warum ich in Tränen ausgebrochen bin, als ich am Donnerstag folgende Nachricht erhalten habe:
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Hi! Ich habe gerade Deinen Blog über lgbtq Angebote in Schulen gesehen und möchte das gerne zum Anlass nehmen und mich ganz doll bei Dir bedanken!
In der 9. Klasse Englisch hast Du uns lgbt näher gebracht und wir haben u.a. über 'don't ask don't tell' diskutiert - das hat mir viel bedeutet und damals das Gefühl gegeben, dass mich 'zumindest ein paar Menschen akzeptieren werden' und dass ich nicht alleine bin und vor allem: dass das noch nicht mal im entferntesten Sinn etwas 'Schlimmes' ist. Für mich war die Schule kein sicherer Ort, mich als trans zu outen, zumal ich teilweise mitbekam wie sogar Lehrer untereinander abfällige Witze in diese Richtung gemacht haben und auch ohne Outing jede einzelne Pause Schüler über mich getuschelt haben und sich gefragt haben "ob ich ein Mädchen oder Junge bin". ^ dieser Satz hat mich jahrelang so verfolgt, dass ich bei jedem Flüstern in der Öffentlichkeit automatisch nur das gehört habe! [Unsere AG] besonders war für mich ein Safe Space - ich konnte dort sein wie ich bin! Ich hatte oft überlegt, ob ich mich Dir anvertrauen soll, letztendlich aber zu viel Angst gehabt, weil mein Umfeld alles andere als supportive war und ich mich mit einem Outing nicht verletzlich machen wollte - ich hatte mir damals stillschweigend gesagt, dass Du mich als die Person, die ich wirklich bin, siehst - danke, Dein Englischunterricht hat mir Hoffnung gegeben, dass irgendwann alles gut wird Liebe Grüße!!_______________________________________
Zuerst hatte ich nur den Namen und das Profilbild gesehen, ein junger Mann, den ich nicht wiedererkannt habe. Ein ehemaliger Schüler? Dann der Blick in's Gesicht und der Nachname und der Ausdruck safe space. Ich hatte vor zehn Jahren eine hochintelligente, brillante Schülerin in Englisch, konnte anspruchsvolles Englisch in der neunten Klasse verstehen und auf muttersprachlichem Niveau schreiben.
Jetzt weiß ich, dass dieser brillante Kopf ein Schüler in einem falschen Körper war. Und dann hat jeder einzelne Satz, den er mir geschrieben hat, tief in's Herz getroffen, über die Schule als unsicheren Ort, die abfälligen Witze, das Tuscheln und vor allem die Hoffnung, dass irgendwann alles gut werden wird.
Ich hatte am Donnerstag Tränen in den Augen und auch jetzt laufen sie mir über das Gesicht, während ich diese Zeilen schreibe. Endlich habe ich die Gewissheit, dass die Schüler zumindest in meinem Unterricht oder Projektangebot einen safe space haben. Etwas, das sie zuhause nicht haben, draußen nicht haben, und auch sonst in der Schule nicht haben.
Und deswegen werde ich auch weiterhin für meine Schüler versuchen, diesen sicheren Raum einzurichten. Egal, wieviel Gegenwind es geben wird.
Ich freue mich riesig, dass er sich "gefunden" hat.
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