Das Springseil
Unsere Schule ist inklusiv. Unsere Schule lässt niemanden zurück, schließt niemanden aus, niemand wird benachteiligt. Wir haben Schüler unterschiedlichster Herkunft, wir haben Jugendliche, die das gesamte Spektrum von Sex & Gender abdecken. Das ist alles ganz selbstverständlich; niemand soll sich bei uns fehl am Platz fühlen. Deswegen sind wir auch sehr stolz auf das Motto unserer Schule: Fair geht vor!
Das versuchst Du natürlich auch für Dein Fach Sport umzusetzen, und so habt Ihr schon vor Langem beschlossen, den Schülern Sportequipment zur Verfügung zu stellen. Die gleichen Sportschuhe, damit niemand aus sozial benachteiligten Familien bei den Laufwettbewerben geringere Chancen hat. Auf der letzten Fachkonferenz habt Ihr endlich beschlossen, auch die Springseile komplett auszutauschen, da waren noch unterschiedliche Sets aus den Neunzigern und Zweitausendern, endlich alle gespendet und es gibt nur noch eine Sorte Springseil für alle Schüler, natürlich anpassbar an die Körpergröße.
Das ist wichtig, denn die Note für bestimmte Sprungtechniken gilt als ein Leistungsnachweis. Und so gehst Du ein bisschen stolz zu Deinen Schülern, die brav in einer Linie stehen und aufgeregt ihrer Herausforderung entgegenfiebern. Da stehen sie, und Du verteilst die Springseile. Eines für Marie, eines für Kevin, eines für Yousef, eines für Johanna, eines für Lava, auch Hasan bekommt eins. Claudia hat zwar eine extreme Lese-Rechtschreib-Schwäche, aber sie ist eine echte Sportskanone. Martin hat den Förderbedarf Lernen, aber er hat auch die schnellsten Beine im ganzen Jahrgang, und auch Silja bekommt das gleiche Springseil. Sie stehen alle bereit, aufgeregt. Sehr aufgeregt: Du lächelst sie alle an, aber nicht alle lächeln zurück.
Leistungsdruck im Hinterkopf. Du hast ihnen klargemacht, dass wir alle Leistungsnachweise als Team bestehen. Natürlich liefert jeder seine eigene Performance ab, aber alle Mitschüler feuern an und applaudieren für den Prüfling. So auch bei Marie, die gar nicht schlecht springt und eine Leistung im unteren Zweierbereich abliefert. Alle jubeln. Kevin ist sehr unsportlich, übergewichtig, aber er versucht es trotzdem. Mit viel Not schafft er eine Leistung im oberen Fünferbereich, aber niemand lässt ihn hängen, alle lächeln ihn an und jubeln, toll, dass du alles gegeben hast!
Einer nach dem anderen liefert ab, Du schreibst Dir alle Noten auf, die Stunde neigt sich dem Ende zu. Martin ist als Vorletzter dran, und auch wenn das Denken bei ihm nicht so schnell funktioniert wie bei seinen Mitschülern, hält ihn das nicht ab, wie ein Blitz das Springseil um sich zu schwingen und eine Leistung mit fünfzehn Punkten zu bringen. Alle klatschen, alle sind stolz auf ihren Martin. Und jetzt kommt noch Silja.
"Ich kann das nicht."
Silja steht da, hält das Springseil in der Hand, schaut es an und schüttelt den Kopf. "Das kann ich nicht." Du bist ein wenig irritiert, denn bisher lief das alles wunderbar, Teamgeist, jeder wird mitgenommen, runde Stunde, läuft, wo ist das Problem? "Kann ich nicht", sagt Silja und bleibt still stehen. Die Mitschüler werden still. So war das nicht geplant.
Du blickst auf den Boden, atmest tief durch. Du versuchst, den Sportsgeist zu verinnerlichen, den Gemeinschaftssinn der Schule. Fair geht vor. Gemeinsam schaffen wir das. All' das rufst Du Dir hervor, und was Du in der Lehrerausbildung zum Thema Teambuilding gelernt hast. Ein freundliches Lächeln zeichnet sich auf Deinem Gesicht ab, als Du aufblickst und voller Motivation sagst:
"Silja, na klar kannst du das! Schau mal, wir alle haben das schon hinbekommen, das schaffst du auch! Es macht nichts, wenn es nicht perfekt wird, liefere einfach so gut ab, wie Du kannst. Streng' dich an, das zählt. Schau mal, Kevin mag Sport nicht, und das ist okay. Er hat es trotzdem versucht und wir haben ihn dabei unterstützt. Wir sind ein Team - du sollst keinen Nachteil haben, weil du mit nur einem Arm auf die Welt gekommen bist. Wir werden dich alle unterstützen!
Du musst dir nur ein bisschen Mühe geben."
post scriptum: Kommentar folgt.
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