Mittwoch, 7. September 2016

Jahrestag und Beobachtung


Heute ist es auf den Tag genau ein Jahr her, dass Flo und ich den Kontakt unterbrochen haben. Das kam nicht plötzlich, das war lange abzusehen. Für Flo war es längst überfällig - und, wie ich in den darauf folgenden Monaten gemerkt habe, für mich auch. Seither steht das Foto von ihm noch immer auf meinem Schreibtisch, wenngleich in der oben abgebildeten Form.

Die wichtigste Person mit einem Zettel abgedeckt, auf dem steht "gone 9/7/15 - Back shortly, Godot." Vielleicht versteht ja der eine oder andere Leser die literarische Anspielung auf Samuel Becketts Theaterstück "En attendant Godot". Die scheinbar wichtigste Figur in diesem Stück, Godot, ist nicht da. Sie tritt nicht auf. Wir kennen sie nicht. Wir wissen nicht einmal, ob es sie überhaupt gibt. All das wissen auch die zwei Männer auf der Parkbank nicht, die auf Godot warten.

"Back shortly, Godot." habe ich mir nicht ausgedacht. Ein Dozent des Englischen Seminars der Kieler Uni hatte diese Nachricht an seine Bürotür gepinnt. Und sie ist großartig: Der Student möchte zum Dozenten, möchte etwas von ihm, möchte ihm etwas geben, wie auch immer. Der Dozent aber gibt sich die Rolle des Godot: Er ist nicht da. Er schreibt, er sei "in Kürze zurück" - und der literarisch Bewanderte geht davon aus, dass dieses "in Kürze" eine sehr lange Ewigkeit bezeichnen kann.

Nun hängt dieser Zettel also auf meinem Lieblingsbild von uns beiden. Vor einem Jahr ist er gegangen. Und ich habe diese Nachricht dazugeschrieben, weil mir eines klar ist - und auch damals war - und zwar, dass er zurückkommt. Oder ich. Oder wir beide. Und das kann schnell passieren oder sehr lange dauern. Ich warte.

Ich warte auf meinen Godot.

post scriptum: Stimmt, da ist ja noch die angekündigte Beobachtung. Ist mir heute wortwörtlich im Vorbeigehen aufgefallen. Manch einer kennt das ja: Man geht durch die Schule und wird von allen Seiten von irgendwelchen Kindern gegrüßt. Und ich komm damit irgendwie so gar nicht zurecht. Wenn ich gehe, bin ich meistens in meinem Gedankenzug und empfinde es als sehr unangenehm, wenn ich meine Gedanken unterbreche. Und das passiert, wenn ich zurückgrüße. Ich vergesse für Sekunden, wo ich bin, was ich tun wollte, wo die Stimme herkam, ich bin vollkommen raus. Deswegen schaue ich beim Herumgehen in der Schule oft auf den Boden, und jedesmal, wenn ich meinen Namen höre, hebe kurz die Hand, ohne hinzuschauen, oder strecke einen Daumen hoch. Ich hoffe, dass das ein einigermaßen guter Kompromiss ist zwischen zurückgrüßen und gedanklich dranbleiben.

Noch ein p.s.: Ich hätte es fotografieren sollen - in der Schule hat irgendjemand an eine Tür einen "Gegen die AfD"-Sticker gepappt. Ich lasse das mal unkommentiert.

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