Freitag, 8. Juni 2018

Pädagogische Gretchenfrage

Soll ich ehrlich sein...?

ante scriptum: Dieses Elterngespräch ist fiktiv. Es ist ein Sammelsurium aus Aspekten, die ich in den vergangenen sieben Jahren an diversen Schulen mitgenommen habe. Die teilnehmenden Personen heißen der Neutralität wegen Mom, Dad und L.

L: "Schön, dass sie diesen Termin einrichten konnten."

Dad: "Vielen Dank, dass sie die Initiative ergriffen haben, um über unsere Tochter zu sprechen."

L: "Ich würde ihnen zunächst gern berichten, warum sie mir im Unterricht überhaupt aufgefallen ist. Sie meldet sich so gut wie nie, ein einziges Mal von sich aus, gleichzeitig ist sie immer hochaufmerksam und scheint gut vorbereitet zu sein. In Kombination mit einem Zeugnis, das sehr viele Dreien und Vieren enthält und einem Vorschlag zum Enrichment ergibt sich für mich das Bild eines hochbegabten Underachievers. Daraufhin habe ich mir ihre Schülerakte vorgenommen und habe dort das einschlägige Gutachten gefunden, das eine überdurchschnittliche Intelligenz bestätigt. Ihre Tochter hat also das Potential dazu, hohe Leistungen zu erbringen, kann oder will aber im Moment nicht darauf zurückgreifen. Das finde ich spannend, und deswegen möchte ich gern mit ihnen reden."

Mom: "Ach merkt man das am Unterrichtsverhalten, dass sie hochbegabt ist?"

L: "Vielleicht habe ich einen Vorteil dadurch, dass ich selbst hochbegabt bin und durch eigene Erfahrung auf ganz bestimmte Verhaltensweisen achte. Ich kann verstehen, wenn ihre Tochter für einen anderen Kollegen einfach nur unauffällig erscheint. Eine ausreichende Kandidatin eben. Da muss man als Otto Normallehrer schon in der Akte nachschauen, um an diese Information zu kommen. Was mich nun interessieren würde: Geht es ihrer Tochter in der Schule gut?"

Dad strahlend: "Mittlerweile ja. Endlich. Die Anfangszeit war ganz fürchterlich, weil sie von ihren Mitschülern ausgegrenzt worden ist, manche haben sie beleidigt oder anderweitig gemobbt. Sie ist durch ihre Intelligenz aufgefallen und das hat sie natürlich zu einer Angriffsfläche gemacht. Aber die Phase ist zum Glück überstanden. Mittlerweile lächelt sie sogar, wenn sie das Schulgelände betritt, sie ist viel entspannter als früher."

L: "Ich frage deswegen: Man kann Hochbegabten zu keinem Zeitpunkt an ihrer Körpersprache, Mimik oder Gestik ablesen, wie es ihnen geht. Ich selbst bin früher in der Mittelstufe stark gemobbt worden und hatte phasenweise richtige Angst, zur Schule zu gehen, aber ich habe sehr schnell gelernt, das zu überspielen, damit es bloß niemand merkt. Method Acting lernen Hochbegabte von der Wiege an und können erschreckend überzeugend sein. Und ich könnte mir vorstellen, dass es ihrer Tochter eben nicht so gut geht."

Dad immer noch lächelnd: "Ja, aber naja... okay, sie erzählt nicht wirklich viel von den Schultagen, ist kein gutes Gesprächsthema, aber sie kommt im Unterricht klar, und während sie früher auch mal gern einfach im Bett geblieben ist, geht sie heute gern und von sich aus zur Schule."

Mom: "Naja warte, so kannst du das nicht sagen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass sie uns da nicht alles erzählt und etwas vorspielt. Sie wirkt alles Andere als entspannt, wenn wir das Schulgelände betreten, sie wird zu einem ganz anderen Menschen."

Dad: "Ja gut, aber das hat halt so seine Phasen. Über die Jahre hatte sie immer Höhen und Tiefen..."

L: "Ich möchte einmal nachhaken - woran machen sie die Höhen fest? Woran erkennen sie das?"

Dad überlegt

Mom: "Siehst du, ich glaube, das kannst du so nicht sagen. So richtige positive Phasen habe ich bei ihr bisher noch nicht erlebt. Wenn du das mit ihrem Bruder vergleichst, der räumt hier perfekte Noten ab, der fühlt sich total wohl an der Schule, aber bei ihr sehe ich das nicht."

(an dieser Stelle ist es für mich gut zu wissen, dass ich eventuell einen Ansatzpunkt gefunden habe - ich könnte jetzt beschwichtigen oder weiterbohren)

L: "Vielleicht hat ihre Tochter noch immer Angst, richtige Antworten zu geben, wegen der Konsequenzen, die sie dann womöglich von ihren Mitschülern zu spüren bekommt. Gleichzeitig möchte sie sie als Eltern allerdings beruhigen, ihnen das Gefühl geben, dass alles in Ordnung sei. Und das scheint ja auch zu funktionieren - wenn sie denn tatsächlich eine Tiefenphase hat. Sie hat sich neulich ein einziges Mal im Unterricht gemeldet und eine richtige Antwort gegeben. Das war so ungewöhnlich, dass ich sie nach der Stunde kurz angesprochen habe und versucht habe, etwas Mut zu machen. Sie scheint generell nicht viel positives Feedback zu bekommen - was aus Lehrersicht nachvollziehbar ist, denn sie beteiligt sich ja nie aktiv am Unterricht. Das könnte eine Art Teufelskreis sein; aus diesem Grund habe ich auch beschlossen, bei Wortmeldungen immer wieder Mut zu machen. Damit der Unterricht keine Angstphase für sie ist."

Mom: "Also wissen sie, das hat uns noch keiner gesagt."

L: "Das verstehe ich nicht ganz. Wie meinen sie das?"

Dad: "Naja, beim Elternsprechtag zum Beispiel, da geht man mit dem Lehrer in's Gespräch und meistens beginnt er mit "Erzählen sie doch mal von ihrer Tochter", und manchmal wirkt es so, als ob einzelne Lehrer dann nur auf bestimmte Schlagworte warten, um die Eltern zu beschwichtigen. Uns hat noch niemand an dieser Schule gesagt, dass unsere Tochter in irgendeiner Weise verhaltensauffällig sei."

---CUT---

Und das kann ich so gut nachvollziehen. Wenn ich als Lehrkraft zehn oder mehr Lerngruppen habe, dreihundert Schüler, von denen ich nicht nur die Namen kennen muss, sondern jeden auch noch individuell betreuen soll, bin ich froh, wenn ich Eltern gewissermaßen "abfertigen" kann. Dann sage ich ihnen das, was sie hören wollen - "Ja, ihr Kind macht sich richtig gut im Unterricht", da gibt es ein richtiges Phrasenbingo (genau wie auf dem Elternabend "Also ich kann ihnen sagen, dass ich wirklich gern in der Klasse ihrer Kinder unterrichte").

Das ist definitiv die für mich angenehmste Tour. Allerdings habe ich vor einigen Jahren für mich beschlossen, nur noch die Wahrheit zu sagen. Naja. Jedenfalls keine Lügen mehr, auch keine Notlügen. Und das wird unangenehm, das wird rauh, darauf hat meine Englisch-Studienleiterin mich damals hingewiesen: "Dr Hilarius, sie bohren in Wunden, sie werfen Sand in's Getriebe. Das ist unverzichtbar für Schule, allerdings machen sie sich damit auch zu einer äußerst unangenehmen Person. Legen sie sich ein gutes Rückgrat zu."

Zu den unangenehmen Wahrheiten in einem Elterngespräch kann auch die Erkenntnis gehören, dass diese Schule vielleicht nicht die geeignete für das Kind ist. Und einen Schulwechsel vorzuschlagen, damit macht man sich gleich bei vielen Instanzen unbeliebt. Besonders im Kollegium, bzw. bei der Schulleitung, die auf jeden Schüler angewiesen ist (Fördergelder usw.).

Ich habe mich entschieden, den rauhen, steinigen Weg zu gehen, auch wenn es mir immer wieder Ärger einbringt. Es geht mir um das Kind. Das ist meine Auffassung von meinem Beruf.

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